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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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das künstlerische Temperament, durch das – nach Zolas Kunstdefinition – die Natur<br />

gesehen wird, die Fülle der Eindrücke nicht mehr zum Ganzen zusammenzubringen.<br />

Es hatte nur etwa h<strong>und</strong>ert Jahre gedauert, bis auch jene letzte Einheit zerfiel, die dadurch<br />

zustande kam, daß derjenige, der sich da ausdrückte, der Künstler, noch ein homogener<br />

Mensch war. Auch das Ich wurde zerspalten. Wagner rettete sich in die personelle <strong>und</strong><br />

psychologische Vielfalt der Oper, in mythologische Zusammenhänge, an die er nicht<br />

glaubte, in Leitmotivik; Richard Strauß in »Tondichtungen«, die mit einer Art von<br />

»Drehbuch« äußere literarische oder domestikale Vorgänge schildern. Danach gab es<br />

keinen Weg mehr als den in die vollkommene Auflösung. Musik, die freieste, weil<br />

abstrakteste aller Künste, hatte ihren formalen Halt von zufälligen, empirischen<br />

Zeitvorgängen erborgt, vermochte das Verrinnen der Zeit nicht mehr zu prägen: der<br />

Zeitablauf war ihr sinnlos, offen, nur noch Melancholie. Unverbindliche melodisch-<br />

harmonische Stimmung trat an die Stelle der Form <strong>und</strong> ermöglichte massenhafte<br />

Produktion von Unterhaltungsmusik für den kleinen Mann <strong>und</strong> die höhere Tochter. Es<br />

begann die Erfüllung des permanenten Programms.<br />

Eine Weile schien es, als hätte die Musik ihre dominierende Stellung im Konzert der<br />

Künste verloren. Die großen französischen Maler, die großen russischen <strong>und</strong><br />

französischen Romanciers traten mit ihrer epochalen fin-de-siècle-Kunst in den<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Die erste Weiterentwicklung aber geschah dennoch nicht bei ihnen, sondern<br />

fast unbemerkt in der Lyrik, wo man die Substanz des »Materials« Sprache zu<br />

untersuchen begann, ob nicht vielleicht sie etwas Neues, Hinweise auf neue Arten der<br />

Artikulation, hergebe. Später untersuchte Schönberg ähnlich auch die musikalische<br />

Substanz <strong>und</strong> gewann ihr ein neues Prinzip ab. Die gesamte Musik seither ist der große<br />

Versuch, bewußt auf dem Weg strenger Konstruktion ein Prinzip außerhalb des<br />

Empirischen im Strukturellen zu finden, eine neue künstlerische Disposition, von der aus<br />

sich vielleicht auch unsere geistige <strong>und</strong> empirische Welt neu disponieren läßt.<br />

Was hat diese Entwicklung mit dem R<strong>und</strong>funk, mit dem <strong>Hörspiel</strong> zu tun? Es wird sich im<br />

Verlauf der Untersuchung zeigen, wie auch das <strong>Hörspiel</strong> – in Fortsetzung dessen, was vor<br />

allem die Lyrik begann – als einer der Versuche aufgefaßt werden muß, die Melancholie<br />

des empirischen Zeitflusses zu durchstoßen <strong>und</strong> das gleichförmige Verrinnen der Zeit,<br />

das permanente Programm zu unterbrechen. Um das zu verstehen, muß man die<br />

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