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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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Dagegen ist, so scheint es den Lesern wie den Hörern Döblins, der Typus des Biberkopf<br />

im Alexanderplatz noch immer gegenwärtig <strong>und</strong> glaubhaft; er wird es wohl für alle Zeit<br />

bleiben. Der Vergleich zwischen Döblin <strong>und</strong> Kesser fällt fast in jeder Hinsicht zugunsten<br />

Döblins aus, nur wo es um die Darstellung von »Masse« im <strong>Hörspiel</strong> geht, ist Kesser<br />

routinierter.<br />

Die Fülle von Chargen, die Döblins Roman enthält, ist bloß stimmlich, sogar erheblich<br />

vermindert, nicht zu erfassen. Man müßte die Chargen auf Typen, ihre r<strong>und</strong>en Gestalten<br />

auf eine abstrakte Flächenhaftigkeit reduzieren, sie nur skizzenhaft andeuten wie Kessers<br />

Treppenhausstimmen. Dies zu leisten waren jedoch bei der <strong>Hörspiel</strong>version des<br />

Alexanderplatz weder Döblin noch seine Helfer im Studio <strong>und</strong> am Regiepult imstande. Der<br />

Dichter lebte noch mit dem Figurengewimmel des Romans, dem er erst vor ein paar<br />

Monaten entkommen war, für die Berliner Mitarbeiter aber hatten sicherlich seit der<br />

Romanlektüre diese Figuren ebenfalls eine Realität, die hinter der des wirklichen<br />

Alexanderplatzes in nichts zurückstand. Eine vollständige Umformung wäre also nötig<br />

gewesen. Wer hätte sie wagen sollen? Hinzukommt, daß Max Bing keine starke<br />

Regiepersönlichkeit war, vor allem kein Regisseur mit dramaturgischem Zugriff. Es fehlte<br />

ihm offensichtlich der zentrale Einfall, um den er das Gewimmel konzentrieren konnte. Er<br />

gab nur Farbe dazu (die ohnehin genug vorhanden war), indem er die vielen unbenannten<br />

Stimmen, die in Döblins Funkmanuskript wie im Roman auftauchen, vom Regiepult aus –<br />

improvisierend <strong>und</strong> systemlos – auf die große Herde von Darstellern verteilte, die er hinter<br />

dem Glasfenster im Studio versammelt hatte.<br />

Natürlich haben beide, Bing <strong>und</strong> Döblin, das Naheliegendste versucht: sie haben darauf<br />

verzichtet, den Platz, die Stadt weiterhin – wie im Roman – Hauptfigur sein zu lassen,<br />

haben die Handlung vor allem auf das Biberkopfschicksal reduziert. Vermutlich hat Döblin<br />

darüber hinaus noch eine weitere Maßnahme vorgeschwebt, die in der Weyrauchschen<br />

Rekonstruktion des Textes nach der erhaltenen Schallaufzeichnung dann bei Verteilung<br />

der Sprecherrepliken konsequenter (<strong>und</strong> gegen die Regie Bings) durchgeführt wurde.<br />

Eine Reihe der Stimmen, die zum Teil wohl auch in Döblins Phantasie nie zu konkreten<br />

Personen gehört haben, sind zweifellos Todesstimmen, sie werden mit ihrer Ironie, ihren<br />

Herausforderungen, ihrem Wissen um die dunkle Zukunft dem lebensstrotzenden<br />

Biberkopf gegenübergestellt. Weyrauch hat sie – darin Döblin vielleicht gemäßer als Bing<br />

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