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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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verschwindet. Einer der Zehn, ein ängstlich-zaghafter Soldat, bekennt nach der<br />

Exekution, nicht abgedrückt zu haben – <strong>und</strong> bei ihm steckt noch im Gewehrlauf die<br />

Übungspatrone. Eine bedeutende Anekdote, erhellend für das Grauen, das jeder<br />

Kompromiß mit dem Bösen zur Folge hat.<br />

Die weiteren <strong>Hörspiel</strong>e Kühners Kasan liegt an der Strecke nach Sibirien (52) <strong>und</strong> Die<br />

Sterne von El Bala (53) sind leider nicht ganz so gelungen. Dagegen ist ein<br />

stoffgeschichtlich bemerkenswertes Beispiel für die gleichzeitige Entstehung eines Stoffes<br />

bei zwei Autoren, zwischen denen keine Verbindung bestand, Kühners <strong>Hörspiel</strong> <strong>Das</strong><br />

Protokoll des Pilatus, dem Wickerts <strong>Hörspiel</strong> <strong>Das</strong> Ärgernis in vielen Einzelzügen genau<br />

entspricht. Beide Stücke, 1953 geschrieben, scheinen aus einem (verspäteten)<br />

Schockkomplex entstanden zu sein, der auf die ebenso antireligiöse wie antipoetische<br />

historische Bibelkritik des Protestantismus zurückgeht. Ihre Fiktion ist, es könne sich<br />

plötzlich herausstellen, daß Glaube <strong>und</strong> Hoffnung zweitausend Jahre lang getrogen<br />

haben, <strong>und</strong> daß jener Jesus von Nazareth niemals gekreuzigt worden ist.<br />

Kühner exerziert beklemmend genau ein Beinahe-Nicht durch, doch kommt die Kohorte,<br />

die Ihn retten sollte <strong>und</strong> beinahe gerettet hätte, zu spät in Golgatha an. Inzwischen aber<br />

wird, in der Angst der St<strong>und</strong>e, da die Rettung Jesu vom Kreuz möglich erscheint, die Fülle<br />

der menschlichen Schuld durch die Jahrtausende, für die Er einstehen wollte <strong>und</strong> nun<br />

vielleicht nicht einstehen kann, rekapituliert.<br />

In Wickerts Stück, das in seiner Rahmenhandlung heute spielt, taucht plötzlich ein altes<br />

Dokument auf, das den bündigen Beweis gegen die historische Realität des<br />

Karfreitagsgeschehens zu enthalten scheint <strong>und</strong> alle Aufgeklärten der ganzen Welt, selbst<br />

den Papst in Rom, zum Glaubensabfall veranlaßt. Doch gibt es zum Glück dann plötzlich<br />

auch wieder einen modernen Theologen, der fähig ist, das Dokument als Fälschung zu<br />

entlarven <strong>und</strong> den Gegenbeweis anzutreten. Aber gerade als er damit beginnen will,<br />

nähert sich ihm unversehens ein Unbekannter. Er entreißt dem Theologen das Dokument,<br />

das der Beweis der Nicht-Realität des Kreuzes war <strong>und</strong> das nun wieder der Beweis seiner<br />

Realität werden sollte, <strong>und</strong> vernichtet es zu Staub. Es dürfen keine Beweise geführt<br />

werden: der Glaube ist nur frei, solange es den Zweifel gibt. Und der Fremde verläßt den<br />

entsetzten Theologen, der nun die ungläubige Welt nicht mehr endgültig bekehren kann,<br />

mit den Worten: »Ich gehe, um wiederum gekreuzigt zu werden.«<br />

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