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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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Wirklichkeit nachweisen <strong>und</strong> überwinden möchte. <strong>Das</strong> Spiel mit der Zeit dient im <strong>Hörspiel</strong><br />

nicht im geringsten – wie beim epischen Theater – der Distanzierung zum Zweck<br />

theoretischer Zergliederung, sondern es will eine neue unmittelbare<br />

Wirklichkeitsannäherung ermöglichen, eine Wirklichkeitsannäherung, die von der<br />

empirischen Zeit unabhängig sein soll. Im <strong>Hörspiel</strong> darf nichts aus der <strong>Geschichte</strong><br />

herausspringen oder auch nur heraustreten, alles muß vollkommen in der Darstellung, im<br />

Gleichnis belassen werden: auch die Erkenntnis (wenn sie sich überhaupt vom Vorgang<br />

lösen ließe), auch der Erzähler.<br />

Aus der <strong>Geschichte</strong> »heraustreten«, da haben wir den formal entscheidenden<br />

Unterschied: der Erzähler steht bei Brecht den Szenen gegenüber, wie der<br />

Moritatensänger auf Zeigestockdistanz seiner Tafel gegenübersteht. Sobald Ideologie,<br />

Weltanschauung, Außerkünstlerisches in die künstlerische Darstellung hineingerät, gibt es<br />

dieses Auseinandertreten: von Wissenden <strong>und</strong> Nicht-Wissenden, von So-Wissenden <strong>und</strong><br />

Anders-Wissenden, von Gerechten <strong>und</strong> Ungerechten – denn in der Ideologie liegt ja auch<br />

der Moralanspruch. <strong>Das</strong> Theater kennt von der Ideologie her, die es vertritt – sei es nun<br />

eine kommunistische oder irgendeine andere –, den »positiven Helden«, von der<br />

Wirklichkeit her ist es negativ, denn eine Klasse oder eine Gruppe, die im Besitz der<br />

Wahrheit oder einer »Idee« ist, wendet sich gegen die Existenz der übrigen. Auch Brecht<br />

ist natürlich – trotz der materialistischen Lehre, die er vertritt – in der Methode ganz<br />

idealistisch: seine Beziehung zu Schiller wird unsern Kindern <strong>und</strong> Kindeskindern nach<br />

größerem zeitlichen Abstand geradezu lächerlich eng erscheinen. Man muß nur erst vom<br />

Marxismus, der heute auch als Idee noch eine bestechende Wirksamkeit repräsentiert,<br />

den gleichen Abstand gewinnen, wie jetzt vom deutschen Idealismus, aus dem der<br />

Marxismus ja entsprang, um das genau zu erkennen.<br />

<strong>Das</strong> <strong>Hörspiel</strong> dagegen ist der kühne Versuch, ohne ideologische Moral auszukommen.<br />

<strong>Das</strong> lyrische Theater kennt weder den positiven noch den negativen Helden. Selbst<br />

Identität ist kein Dogma mehr: selbst das Ich ist vertauschbar. <strong>Das</strong> einzige, was bleibt, ist<br />

die konkrete Sprache als Möglichkeit der Kommunikation untereinander <strong>und</strong> mit der<br />

Wirklichkeit. Kein W<strong>und</strong>er, daß die Sprache für die Dichter heute eine so überragende<br />

Rolle spielt, daß sie fast absolut gesetzt <strong>und</strong> daß die Welt beinahe auf sie reduziert wird.<br />

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