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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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müssen. Der Dichter aber, der bald, nachdem er dem Volk das Lebenszeichen gegeben<br />

hatte, starb, zählte in der Nacht des Schreis zu den ganz wenigen, die den Schrei nicht<br />

vernahmen: der Bezirk nämlich, in dem sein Elternhaus lag, die Hamburger Karl-Cohn-<br />

Straße, hatte zu jener St<strong>und</strong>e des 13. Februar »Stromsperre«, <strong>und</strong> der Radioapparat ließ<br />

sich nicht einschalten. Also ging er, um nicht zu frieren, ins Bett.<br />

So gehörte dieser Dichter also zu den wenigen Menschen zwischen Flensburg <strong>und</strong> Bonn,<br />

die am nächsten Morgen nicht wußten, daß in der vergangenen Nacht, vom Funkhaus in<br />

der Rothenbaumchaussee aus, ein heimkehrender Soldat namens Beckmann,<br />

Gasmaskenbrille auf der Nase, leeren Brotbeutel umgeschnallt, begonnen hatte, mit<br />

lautem Vorwurf gegen Gott <strong>und</strong> die ganze Welt, am lautesten, <strong>und</strong> noch heute<br />

nachhallend, gegen uns Deutsche, das Dunkel nach Überlebenden zu durchsuchen.<br />

So seltsam es klingt: jene Nacht aus Hunger, Kälte <strong>und</strong> Trümmern war die größte Zeit, die<br />

der R<strong>und</strong>funk erlebt hat <strong>und</strong> vermutlich je erleben wird. Noch nie hat er bei uns oder<br />

irgendwo sonst in der Welt so viel Macht über Menschen besessen.<br />

Zwar soll daneben nicht die Macht vergessen werden, die er in den Jahren vor 1945<br />

ausübte. Wem noch das Weckerticken <strong>und</strong> die unheimlichen Kuckucksrufe aus dem<br />

Lautsprecher in den Ohren klingen, durch die immer wieder die Flugzeugschwärme<br />

angekündigt wurden, <strong>und</strong> dann, als sie über den Dächern kreisten, das tausendfüßige<br />

Scharren der aus dem Schlaf Gescheuchten draußen auf Treppen <strong>und</strong> in Kellern,<br />

während über ihnen die Flakgeschütze die Wolken anbellten <strong>und</strong> das Heulen <strong>und</strong> Bersten<br />

der Bomben die Nacht durchzitterte, <strong>und</strong> das Zusammenprasseln der Häuser <strong>und</strong> das<br />

Pfeifen des Feuersturms <strong>und</strong> das Schreien der Sterbenden – <strong>und</strong> am Ende wieder<br />

Marschlied <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funkfanfare. Wem das alles noch in den Ohren klingt, der weiß von<br />

der Macht des R<strong>und</strong>funks ein Lied zu singen. Es war das Schlottern der Todesangst, mit<br />

dem er die Menschen unter Terror zu halten wußte. Aber war es wirklich der R<strong>und</strong>funk,<br />

der das bewirkte? Waren es nicht vielmehr die, in deren Hände Waffen von keinerlei Art<br />

gegeben werden dürfen, auch nicht R<strong>und</strong>funkwellen, ohne daß Millionen <strong>und</strong> eines Tages<br />

vielleicht Milliarden damit umgebracht werden?<br />

Was aber dann geschah, als die Tage <strong>und</strong> Nächte plötzlich voll Schweigen waren,<br />

Schweigen der Erschöpfung <strong>und</strong> des Gewissens- <strong>und</strong> Bauchgrimmens, <strong>und</strong> als alle<br />

zwischen den stehengebliebenen Mauerresten aufeinander hockten, sich an das<br />

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