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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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oder eine <strong>Hörspiel</strong>erin, ohne ihre Stimme je vernommen zu haben, nach der<br />

http://www.mediaculture-<strong>online</strong>.de<br />

Photographie, also nach rein physiognomischen Merkmalen, verpflichtete: er war<br />

überzeugt, der physiognomische Typ mußte auch sein akustisches »Gesicht« haben –<br />

<strong>und</strong> er behielt damit fast immer recht. Genauso aber wählte er auch Geräusche aus,<br />

natürliche <strong>und</strong> elektronische: als Individuen, denen er eigene Existenz zubilligte. Er war<br />

von einem dämonischen Ausdruckswillen besessen, deshalb glaubte er an die Dämonie<br />

des Ausdrucks. Existenz haben hieß für Reiss akustisches Unterschieden-Sein, je mehr<br />

Unterscheidbarkeit, desto mehr Existenz. Doch arbeitete er mit den Ausdrucksfarben nicht<br />

abstrakt, sondern versuchte die Formen, die er schuf, mit den Inhalten der Texte, die er<br />

hörbar machen sollte, zur Deckung zu bringen. Manchmal gelang das überhaupt nicht,<br />

manchmal gab er damit auch inhaltslosen Manuskripten erst Inhalte. Er war der einzige<br />

<strong>Hörspiel</strong>regisseur, dem bisweilen glückte, was auf dem Theater nichts Besonderes ist, im<br />

Funk aber geradezu als unmöglich gilt: dürftige oder gar mißglückte Manuskripte durch die<br />

Inszenierung interessant <strong>und</strong> hintergründig zu machen.<br />

Reiss hatte sich vorgenommen, alle Grenzen der akustischen Regie zu erk<strong>und</strong>en.<br />

Jahrelang nahm er dafür in Kauf, daß ihm von drei Inszenierungen manchmal zwei<br />

mißglückten. Freilich jene eine! Und dann, als er es geschafft hatte, als er in seinen<br />

letzten Lebensjahren »durch« war, die selbstgestellten Probleme gelöst hatte <strong>und</strong> als ihm<br />

plötzlich fast jede Produktion gelang! Seinen von Anfang an weitberühmten<br />

Inszenierungen des General Frederic <strong>und</strong> des Tiger Jussuf konnte er noch r<strong>und</strong> ein<br />

Dutzend vermutlich für lange unübertreffliche hinzufügen. Leider erlaubte der Tod ihm<br />

nicht mehr, aus den Erfahrungen der Experimente Gr<strong>und</strong>sätze zu entwickeln <strong>und</strong> Schule<br />

zu bilden. Vielleicht hätte er das noch immer ungelöste Problem der Darstellung des<br />

Grotesken am Mikrophon lösen können. Er hat es mit einzelnen Inszenierungen getan,<br />

vor allem mit Genzô Murakamis Gibt es den Teufel oder gibt es ihn nicht? Doch verfügte<br />

er auch über die entgegengesetzten, ganz zarten Ausdrucksmittel: etwa wenn er in<br />

Nakamura Shinkichis Spieldose mit elektronischen Klängen erreichte, was Ohlmeyer mit<br />

dem Wort versucht hatte: die Begrenzung der Stille. Daneben wiederum besaß Reiss<br />

ganz realistische Möglichkeiten: beinahe eine St<strong>und</strong>e lang ließ er in Brigadevermittlung<br />

die Artillerie von 1917 sprechen, ohne dem Wort Wirkungen <strong>und</strong> sich selbst<br />

Steigerungsmöglichkeiten zu nehmen.<br />

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