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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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dürfen keinesfalls durch eine Stimme repräsentiert werden, denn wenn sie nicht zu zweit<br />

den Identitätswechsel des Tigers bezeugen, glaubt man seinen weiteren Weg nicht. (Man<br />

soll in dieser Komödie freilich ohnehin nur zweifelnd glauben.)<br />

Wichtig bei alledem ist, daß im <strong>Hörspiel</strong> die Identität der Person, da sie durch die Stimme<br />

gegeben ist, in einer tieferen Schicht wurzelt als auf dem Theater. So besitzt das <strong>Hörspiel</strong><br />

weniger spielerischen Charakter, hat nicht, wie das Theater, eine Wurzel im Masken- <strong>und</strong><br />

Verkleidungsspiel, findet schwerer den unmittelbaren Zugang zu Humor <strong>und</strong> Heiterkeit,<br />

neigt leichter zu melancholischer Existenz-Aussage.<br />

Paul Ernst hat einmal – mit polemischer Absicht – folgendermaßen unterschieden:<br />

Gerhart Hauptmann zeige, wie die Menschen sich räuspern <strong>und</strong> spucken, Shakespeare,<br />

wie sie Charaktere, Sophokles, wie sie Seelen seien. Sieht man von der Polemik ab, so<br />

bleibt immerhin übrig, daß es verschiedene Möglichkeiten auch in der Darstellung des<br />

Individuellen gibt. Es wäre naheliegend, jetzt auf eine Verwandtschaft zwischen <strong>Hörspiel</strong><br />

<strong>und</strong> klassischer Tragödie hinzuweisen, von der manche <strong>Hörspiel</strong>theoretiker so gern<br />

reden; der Vergleich hat manches für sich, mehr gegen sich. Hier stimmt nur, daß beide<br />

nicht realistisch zeichnen, daß sie ihre Figuren im Gegensatz zu Hauptmann <strong>und</strong><br />

Shakespeare mimisch weit »zurücknehmen«, sie nichts komödiantisch »ausspielen«,<br />

nach außen spielen können. Aber das <strong>Hörspiel</strong> im Unterschied zur Tragödie idealisiert<br />

nicht, es läßt seine Gestalten im Bereich des Individuellen. Ja, es ist sogar ganz<br />

offensichtlich, daß <strong>Hörspiel</strong>figuren sich auch der geringsten Idealisierung noch<br />

widersetzen, daß sie – isolierte – heutige Menschen, daß sie Leidende unseresgleichen<br />

sein wollen. Vielleicht ist es erlaubt, trotz des Widerspruchs, der darin zu liegen scheint,<br />

einmal von einer »Abstrahierung zum Individuellen hin« zu sprechen.<br />

Shakespeares Menschen sind stets Handelnde, haben immer – selbst noch als Machtlose<br />

oder in der Enthaltsamkeit von der Macht – ein enges Verhältnis zu Herrschaft <strong>und</strong><br />

Königtum. Auch die Gestalten des naturalistischen Dramas gehören Klassen an, auch<br />

ihnen widerfährt das Schicksal der Gruppe, die sie bestimmt <strong>und</strong> vielleicht aktiviert. Im<br />

<strong>Hörspiel</strong> findet die Reduzierung des modernen Menschen auf sein absolut vereinzeltes,<br />

vorwiegend empfindendes <strong>und</strong> reflektierendes Wesen Ausdruck. Selbstverständlich<br />

bedeutet das nicht, daß nicht alle Probleme dargestellt werden können, z. B. auch die<br />

sozialen. Aber da zeigt sich dann, wie in Eichs Zinngeschrei, daß es nur noch Individuen,<br />

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