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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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französischen Jüdin, die, als sie während des Krieges starb, die Worte Konformismus <strong>und</strong><br />

Nonkonformismus nie gehört hatte, denn sie waren noch nicht erf<strong>und</strong>en. Dennoch aber<br />

wußte sie genauer als irgendwer außer ihr, daß es nur eine Möglichkeit gibt, nicht auf der<br />

Seite irgendeiner Macht <strong>und</strong> irgendeiner mächtigen Wahrheit zu stehen: indem man<br />

nämlich endgültig auf die Seite derjenigen tritt, die sich weder auf Macht noch auf<br />

irgendeine ihnen günstige Wahrheit stützen können. Simone Weil hat, wenn auch nicht<br />

wortwörtlich, gleichfalls gesagt, daß sie »bei den Irrtümern« bleiben will, als sie das<br />

Sakrament, das ihr der befre<strong>und</strong>ete Pater Perrin bot, ablehnte. Sie fühlte, »daß Gottes<br />

Wille dem entgegen« war. Und wenn Pater Perrin bek<strong>und</strong>ete, daß Taufe <strong>und</strong> Sakrament<br />

zum Heile unerläßlich seien, so entgegnete sie: »Wenn es vorstellbar wäre, daß man sich<br />

verdammt, indem man Gott gehorcht, so wählte ich dennoch den Gehorsam ... Es ist nicht<br />

meine Angelegenheit, an mich zu denken. Meine Angelegenheit ist es, an Gott zu denken.<br />

Es ist Gottes Sache, an mich zu denken.« Festianus <strong>und</strong> Simone empfinden, daß, wie an<br />

allen Besitzern der Wahrheit auf Erden, auch an der Kirche etwas falsch ist, wenn sie sich<br />

im Besitz wähnt. Es gibt wohl keine schärfere ketzerische Formulierung dafür als das<br />

säkulare Wort, das die große außerkirchliche Heilige über den guten Schächer gesagt hat:<br />

»Während der Kreuzigung Christi an seiner Seite <strong>und</strong> in der gleichen Lage wie er<br />

gewesen zu sein, scheint mir ein sehr viel beneidenswerteres Vorrecht, als zu seiner<br />

Rechten zu sitzen in seiner Herrlichkeit.« Dieses Wort, an dem jede, aber auch jede<br />

falsche Heilsgewißheit zuschanden wird, die kirchliche wie die sozialistische, entspricht<br />

am Schluß des Eich-Stückes genau der Entscheidung des Festianus für die Hölle.<br />

Doch darf man die Erlösungstat des Festianus nicht einseitig mißverstehen: natürlich geht<br />

es, auch wenn Eich die Kirche apostrophiert (deren Petrus-Schlüssel nicht mehr schließt,<br />

weil er abgebrochen ist, deren Heilsauftrag nicht mehr wirksam wird, weil sich die Heiligen<br />

absondern <strong>und</strong> weil sie, wenn sie die Leidenden nicht sehen, »Ihn nicht sehen«) –<br />

natürlich geht es Eich nicht allein <strong>und</strong> nicht einmal zuerst um die Kirche. So wie Simone<br />

Weil bek<strong>und</strong>et, sich stets untersagt zu haben, »an ein zukünftiges Leben zu denken«, so<br />

zielt auch weder Eichs Himmel noch seine Hölle, weder seine Kirche noch des Festianus<br />

Erlösungstat noch irgendeins der anderen Bilder auf irgendeine Transzendenz ab. Es geht<br />

um das Jetzt <strong>und</strong> Hier, <strong>und</strong> der Protest des Festianus ist innerweltlich gemeint: gegen<br />

jeden Verein von Besitzenden, der durch seinen Anspruch die Armen <strong>und</strong> Leidenden nur<br />

immer mehr beraubt, besonders aber gegen sämtliche Besitzer von Ideologien,<br />

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