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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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SPIEL MIT ZAHLEN UND SCHICKSALEN<br />

http://www.mediaculture-<strong>online</strong>.de<br />

Es ist heute schwer, die Situation von vor nicht einmal zwei Jahrzehnten zu verstehen,<br />

selbst für die, die sie miterlebten. Vielleicht wird die beispiellose innere Abhängigkeit der<br />

Menschen vom damaligen R<strong>und</strong>funk – besonders vom <strong>Hörspiel</strong> <strong>und</strong> von allen<br />

Bildungsprogrammen – durch Zahlen deutlicher.<br />

Zahlen? Wir waren immer große gewöhnt, die so bei 98 Prozent lagen <strong>und</strong> denen wir nie<br />

recht trauten. Viele fürchten sich deshalb bei uns noch heute vor allen Auskünften, in<br />

denen es um Zahlen geht, <strong>und</strong> halten Meinungsumfragen für trügerischer, als sie sind.<br />

Doch gibt es auch ein paar Zahlenerfahrungen ohne Umfragen, Zufallsergebnisse, die in<br />

das allgemeine Mißtrauen nicht eingeschlossen werden können. Sie haben obendrein den<br />

Vorteil, daß sie die Aktivität der Hörer voraussetzen, eine mühsame Aktivität, <strong>und</strong> daß<br />

dabei die Einzelnen sozusagen namentlich beteiligt wurden. Heute gibt es Ähnliches<br />

kaum mehr – oder höchstens bei Fernsehlotterien, aus denen man wenig schließen kann;<br />

deshalb müssen wir jene Vorgänge hier festhalten.<br />

Im Januar 1947, also nur anderthalb Jahre nach der Katastrophe, kam der R<strong>und</strong>funkmann<br />

Ernst Schnabel auf die Idee, ein Feature gemeinsam mit den Hörern zu verfassen; es<br />

sollte aus Schicksalen bestehen. Deshalb rief er über den »Nordwestdeutschen<br />

R<strong>und</strong>funk« alle zur Mitarbeit Bereiten auf, ihm brieflich zu erzählen, wie sie den 29.<br />

Januar verbracht hätten: es brauchten ihnen keineswegs Sensationen begegnet zu sein,<br />

Alltagsgeschehen sei wichtiger, er wolle einen poetischen Querschnitt durch den Alltag<br />

eines ganzen Volkes versuchen, das sich ja aus Millionen unauffälliger Einzelner<br />

zusammensetzt.<br />

Schnabel bekam 35000 Briefe. Fast alle bestanden aus Verzweiflung, so erzählt Axel<br />

Eggebrecht, kaum zehn Prozent enthielten ein Bekenntnis zu Leben <strong>und</strong> Lebensmut.<br />

Schnabel wiederholte sein Experiment nach drei Jahren unter dem 1. Februar 1950.<br />

Inzwischen hatten die Menschen das Feature vom 29. Januar in mehreren<br />

Wiederholungen hören können, der Autor <strong>und</strong> das Unternehmen hatten ihre<br />

Vertrauenswürdigkeit erwiesen, das Experiment hatte Aufsehen erregt. Also meldeten<br />

sich nun sogar nahezu 80000 Menschen <strong>und</strong> schickten ihre Briefe – eigentlich muß man<br />

sagen: Aufsätze <strong>und</strong> Beichten – ein. Fast schien es unmöglich, all die langen<br />

Auslassungen zu lesen, zu sichten, zu ordnen. Wir wissen heute, daß Schnabels<br />

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