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Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte - Mediaculture online

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gleiche festzustellen. Wahrscheinlich ist die Zunahme der Stücke mit zwei oder wenig<br />

mehr Personen <strong>und</strong> die Abwendung vom Geräusch <strong>und</strong> sonstigem Aufwand nicht so sehr<br />

auf das Bedürfnis nach allgemeiner künstlerischer Ökonomie zurückzuführen wie auf die<br />

Attraktivkraft dieses Modells der sich begegnenden Einzelnen <strong>und</strong> Einsamen, für die es ja<br />

außer der Sprache als Medium ihrer Gemeinschaft keiner anderen Hilfsmittel bedarf.<br />

Wie sieht nun das Gegenteil dieser Solidarität aus? Jens zeigt es mit einer Analyse des<br />

Brecht-Gedichts Die Nachtlager, das folgendermaßen beginnt:<br />

Ich höre, daß in New York<br />

An der Ecke der 26. Straße <strong>und</strong> des Broadway<br />

Während der Wintermonate jeden Abend ein Mann steht<br />

Und den Obdachlosen, die sich ansammeln,<br />

Durch Bitten an Vorübergehende ein Nachtlager verschafft...<br />

Dieser Nachricht fügt Brecht mit hockerhobenem Zeigefinger – durch einen kunstvollen<br />

Chiasmus <strong>und</strong> eine ausdrückliche Anrede an den Leser unterstrichen – in dreizehn<br />

Verszeilen gegenüber den fünf der Schilderung hinzu, daß solch ein Wohltäter <strong>und</strong><br />

Mahner belanglos sei:<br />

Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht.<br />

<strong>Das</strong> Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.<br />

Belehrung <strong>und</strong> Beruhigung für die Genossen: Aktivität nützt nur im Kollektiv, jeder<br />

zwischenmenschliche Versuch ist sinnlos! Aber das ist eigentlich, wenngleich unfreiwillig,<br />

auch die totale Kapitulation des Dichters <strong>und</strong> der Dichtung – es sei denn, sie diene zur<br />

Formulierung von Parteiparolen für Wandsprüche.<br />

Ich weiß, daß Jens hier etwas anderer Meinung ist als ich, er hält Die Nachtlager<br />

»dennoch« für ein »signifikantes Gedicht der Moderne« – aus stilistischen Gründen, <strong>und</strong><br />

das ist es insofern vielleicht auch. Aber er stellt immerhin fest: »Der Sozialkritiker kann im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht mehr sinnfällig beschreiben; er braucht den Traktat – <strong>und</strong> das in<br />

einer Zeit, da die indirekte Manier die Perspektive bestimmt.«<br />

Ich möchte an dieser Stelle nicht falsch verstanden werden: es geht nicht darum, ob<br />

Brechts Theorie, derzufolge sich das »Zeitalter der Ausbeutung« nicht verkürzen läßt,<br />

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