Hegel: Vorlesungen über die Beweise vom Dasein ... - Leo-dorner.net
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Die moderne Welt verbeliebigt <strong>die</strong> religiöse Freiheit daher lediglich, sie<br />
verhält sich neutral zu allen Religionen, einschließlich zu jener, aus der sie<br />
selbst geboren wurde; <strong>die</strong> moderne Welt verrät <strong>die</strong> christliche Religion,<br />
dann <strong>die</strong> Theologie, dann <strong>die</strong> Philosophie; <strong>die</strong>s muß sie büssen, <strong>die</strong>s muß<br />
sie auch erkennen; und sie wird dazu gezwungen, versteht sich: auf nicht<br />
sanfte Weise. Schon <strong>die</strong> nächstbeste alte Religion, <strong>die</strong> es sich nicht<br />
gefallen lassen kann, als neutrale Lauge behandelt zu werden, weil sie<br />
sich als Gegenprinzip, als wahrere Wahrheit gegen <strong>die</strong> nur freie Wahrheit<br />
der säkularen Welt versteht, wird <strong>die</strong> moderne Welt in entscheidender<br />
Weise auf sich selbst aufmerksam machen und radikal auf sich und ihre<br />
Wurzeln und Gründe zurückwerfen.]<br />
XVI. - Dieses Herz kann darum auch nichts gegen <strong>die</strong> Entwicklung <strong>die</strong>ses<br />
seines objektiven Bodens haben, ebensowenig als gegen <strong>die</strong> seiner<br />
Wahrheiten, welche für sich zunächst mehr als theoretische Wahrheiten<br />
seines religiösen Glaubens erscheinen. Wie aber schon <strong>die</strong>ser Besitz und<br />
<strong>die</strong> intensive Innigkeit desselben nur durch <strong>die</strong> Vermittlung der Erziehung,<br />
welche sein Denken und Erkenntnis ebenso als sein Wollen in Anspruch<br />
genommen hat, in ihm ist, so ist noch mehr der weiter entwickelte Inhalt<br />
und <strong>die</strong> Umwandlung des Kreises seiner Vorstellungen, <strong>die</strong> an sich in der<br />
Stätte einheimisch sind, auch in das Bewußtsein der Form des Gedankens<br />
vermittelndes und vermitteltes Erkennen. [77 Daß <strong>die</strong>ses Herz des<br />
autoritär vermittelten Glaubens nichts gegen <strong>die</strong> „Entwicklung seines<br />
objektiven Bodens“ haben könne, ist natürlich frech optimistisch<br />
gesprochen. <strong>Hegel</strong> ignoriert hier frisch und fröhlich <strong>die</strong> Präsenz der<br />
Institution und der Tradition in der Realität des Glaubens. Dieser läßt sich<br />
nicht von heute auf morgen und schon gar nicht durch Belehrungen aus<br />
der Küche der Philosophie auf den neuen Weg der Freiheit bringen.<br />
Auch wird <strong>die</strong> alte Realität und deren Institution und Tradition nicht aus<br />
purer Freundlichkeit oder Einsicht in neue Belehrungen <strong>die</strong><br />
liebgewordenen Machteinflüsse abgeben; selbst seine „theoretischen<br />
Wahrheiten“ wird es bastionisieren, sie wird neue Dogmen aufstellen, <strong>die</strong><br />
noch „wahrer“ sind als <strong>die</strong> gewesenen; sie wird sich gegen <strong>die</strong> ganze<br />
moderne Welt zu immunisieren versuchen; und sie wird damit <strong>die</strong> Welt<br />
und sich selbst verlieren. Sie wird so machtlos und verschwindend<br />
werden, daß sie zur Einsicht kommen wird, es müsse „alles anders<br />
werden“.<br />
Erst in <strong>die</strong>sem völlig neuen Selbstverständnis kann auch ein neues Denken<br />
und Tun der religiösen Freiheit entstehen, und es ist nicht zu leugnen, daß<br />
auf paradoxe Weise, <strong>die</strong> scheinbar „oberflächlichen“ Amerikaner auch<br />
<strong>die</strong>sbezüglich weiter sind als <strong>die</strong> religionsgeschichtlich altgewordenen<br />
Europäer, <strong>die</strong> nicht durchschauen, daß sie der Idee einer Sackgasse<br />
nachlaufen, wenn sie das Projekt der unabgeschlossenen Moderne als<br />
noch nicht vollbrachte totale Säkularität in dem Sinne verfolgen, daß in<br />
<strong>die</strong>ser Sackgasse jede Religion durch langsames Aushungern zu Tode<br />
gebracht werden müsse.<br />
Vorsichtig und verhüllt spricht <strong>Hegel</strong> hier <strong>die</strong> vorhin ausgeklammerte<br />
Problematik der Vermittlung durch Tradition und Institution doch an: es<br />
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