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Festschrift für Fritz W. Scharpf - MPIfG

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Wiesenthal · Beyond Incrementalism 41<br />

ventiven Arbeiterschutzes, eine Reform des Haftpflichtrechts zu Gunsten der<br />

Geschädigten, die Unterstützung des Hilfskassenwesens sowie die Schaffung<br />

von Pflichtversicherungen.<br />

Der Übergang von der sozialpolitischen Debatte zu einer politikvorbereitenden<br />

Be<strong>für</strong>worterkoalition (»advocacy coalition«) konkreter Reformen,<br />

der in den 1870er-Jahren erfolgte, verdankt sich dem Hinzutreten machtpolitischer<br />

Erwägungen in Regierungskreisen und einem sich unverhofft bietenden<br />

Gelegenheitsfenster. Zum einen reagierte die Reichsregierung auf die<br />

Organisations- und Wahlerfolge der politischen Arbeiterbewegung 12 mit<br />

wachsender Handlungsbereitschaft, die sich zunächst auf die Maßnahmensondierung<br />

in Fachkonferenzen und Strategiezirkeln beschränkte. Zum anderen<br />

versuchte sie, vom Umschlag der öffentlichen Stimmung zu profitieren,<br />

als zwei Attentate auf den Kaiser eine an 1848 erinnernde Revolutionsfurcht<br />

geweckt hatten. 13 Der angekündigte »Vernichtungskrieg« gegen die<br />

Arbeiterbewegung war nach Auffassung der Historiker jedoch keine Reaktion<br />

auf eine akute Bedrohung des politischen Systems, sondern ein Versuch,<br />

repressive Maßnahmen mit der grassierenden »Sozialistenfurcht« zu<br />

legitimieren. Die Ablehnung des <strong>für</strong> die tendenziell liberale Reichstagsmehrheit<br />

inakzeptablen Sozialistengesetzes war einkalkuliert, da sie der Regierung<br />

die Möglichkeit bot, das Parlament aufzulösen und sich durch Neuwahlen<br />

einen der Zeitstimmung entsprechend konservativen Reichstag zu<br />

verschaffen. Dieser nahm nicht nur im Oktober 1878 das Sozialistengesetz<br />

an, sondern war auch bereit, den Wechsel vom Wirtschaftsliberalismus zur<br />

Schutzzollpolitik mitzutragen, von der man sich eine Besserung der Wirtschaftslage<br />

erhoffte (Saul 1980).<br />

Bismarcks Entscheidung <strong>für</strong> eine staatliche Initiative in Sachen des industriellen<br />

Unfallrisikos, aus der die heute nur marginal bedeutsame Unfallversicherung<br />

hervorging, entsprang der Konvergenz des machtpolitischen<br />

mit dem sozialpolitischen Kalkül: Um der Sozialdemokratie »das Wasser<br />

abzugraben«, sollte die politische Konfliktverschärfung mittels der repressiven<br />

Sozialistengesetze durch einen Beitrag zur sozialen Konfliktentschär-<br />

12 So war es 1875 in Gotha zur Vereinigung der ADAV (Lassalle) und der Sozialdemokratischen<br />

Arbeiterpartei (Bebel, Liebknecht) zur späteren SPD gekommen. 1877 zogen erstmals<br />

zwölf SPD-Abgeordnete (mit 9,1% Stimmenanteil) in den Reichstag ein. In Sachsen<br />

waren die Sozialdemokraten mit 38% stärkste Partei geworden, während sie auch in Berlin<br />

(39,2%) und Hamburg (40,0%) beachtliche Erfolge verzeichneten (Ritter 1983: 26).<br />

13 Das Attentat vom 11. Mai 1878 überstand der Kaiser unverletzt, das zweite Attentat vom<br />

2. Juni 1878 dagegen nur mit schweren Verletzungen. Es lieferte Bismarck einen Anlass,<br />

den Reichstag aufzulösen.

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