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Festschrift für Fritz W. Scharpf - MPIfG

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Wiesenthal · Beyond Incrementalism 53<br />

Die »soziale Frage« betraf die in der Industriearbeiterschaft verbreitete<br />

Altersarmut. Nach Leistungskürzungen der öffentlichen Armen<strong>für</strong>sorge war<br />

es in den 1890er-Jahren zu einem Anstieg der Altersarmut gekommen, der<br />

als sozialer Skandal galt, da nun auch »brave« Arbeiter betroffen waren<br />

(Orloff 1993). Die bis dahin im liberal-individualistischen Weltbild präferierten<br />

Formen von Selbsthilfe und Wohltätigkeit erschienen immer öfter als<br />

unzulänglich. Es entwickelte sich der Diskurs eines »neuen« Liberalismus,<br />

in dem man dem Staat mehr Verantwortung <strong>für</strong> die Bearbeitung der sozialen<br />

Probleme zuschrieb. Auch wurde die Notwendigkeit diskutiert, mittels<br />

staatlicher Sozialpolitik die »national efficiency« zu steigern.<br />

In mehreren Reports und Publikationen schälte sich eine neue Deutung<br />

von Arbeitslosigkeit heraus. Sie wurde als permanentes Risiko des freien<br />

Arbeitsmarktes, des technologischen Wandels und der durch Freihandel dynamisierten<br />

Gütermärkte erkannt. Anstelle von lokalen Arbeitsbeschaffungsprogrammen,<br />

privater Wohltätigkeit, freiwilligen Versicherungen oder der<br />

Auswanderungsoption, die sich allesamt als inadäquat gezeigt hätten, seien<br />

neue Institutionen erforderlich: insbesondere öffentliche Arbeitsnachweise<br />

(Arbeitsämter), ein nationaler Entwicklungsfonds und eine eigens zu schaffende<br />

Arbeitslosenversicherung.<br />

Die Be<strong>für</strong>worterkoalition wurde von Beamten der höheren Staatsbürokratie<br />

und der Führung der Liberalen Partei gebildet. Angehörige der Staatsverwaltung<br />

wie Llewellyn Smith, Churchill und Beveridge präsentierten ihre<br />

Vorschläge <strong>für</strong> institutionelle Innovationen als Ausdruck eines »Limited<br />

Socialism«. Ihre allgemeinen Wertorientierungen waren sowohl durch das<br />

individualistisch-liberale Ideengut als auch durch einen konservativ-paternalistischen<br />

Begriff harmonischer Sozialintegration geprägt. Die die Policywahl<br />

informierenden Prämissen entstammten professionsethischen Vorstellungen<br />

von einer sachadäquaten Problembearbeitung. Die unmittelbaren<br />

Policypräferenzen drückten einerseits den Willen zur institutionellen Modernisierung<br />

aus, andererseits taktische Kalküle des Parteienwettbewerbs.<br />

So waren insbesondere die Vertreter der regierenden Liberal Party bestrebt,<br />

das Thema Sozialreform nicht der als Konkurrenten erkannten Labour Party<br />

zu überlassen. Eine proaktive Haltung versprach nicht nur, von weiter gehenden<br />

»sozialistischen« Forderungen verschont zu bleiben, sondern auch<br />

<strong>für</strong> die Wählbarkeit der Liberalen unter den Arbeitern zu sorgen. Die konkreten<br />

Politikvorschläge waren von vornherein auf möglichst breite Zustimmungsfähigkeit<br />

hin ausgerichtet.<br />

Als schwache Verbündete der Be<strong>für</strong>worterkoalition agierten die Charity-<br />

Organisationen. Sie hatten zwar zum Wandel des Problemverständnisses

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