Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
wenn Gagausien betroffen ist;<br />
3. die Regelung von Eigentumsrechten, der<br />
regionalen Wirtschaftspolitik, sozialer und<br />
kultureller Entwicklung, das regionale<br />
Budget und Steuerwesen, soziale Sicherheit,<br />
Arbeitsrecht und Umweltschutz und<br />
die rationale Nutzung der natürlichen<br />
Ressourcen;<br />
4. die Vorgabe der Prioritäten der<br />
Wirtschaftsentwicklung und wissenschaftlichen<br />
Forschung;<br />
5. die Erstellung des Jahresbudgets der Region,<br />
das dem Parlament zur Verabschiedung<br />
vorgelegt werden muss;<br />
6. Umweltschutz, rationale Nutzung der<br />
natürlichen Ressourcen, Erklärung ovn<br />
Umweltkatastrophen, Quarantänen;<br />
7. die Planung und Ausführung von Programmen<br />
im Bildungswesen, Kultur, Gesundheitswesen,<br />
Sport, soziale Sicherheit, Denkmalpflege;<br />
8. die Einhaltung von bürgerlichen Rechten und<br />
Freiheiten, der sozialen Harmonie, Recht und<br />
Ordnung;<br />
9. die Planung einer wissenschaftlich<br />
untermauerten<br />
Bevölkerungspolitik,<br />
Stadtentwicklung und sozialem Wohnbau.<br />
10. Der Gebrauch und die Entwicklung nationaler<br />
Sprachen und Kulturen in Gagausien.<br />
Die autonome Regierung hat auch das Recht, der<br />
Volksversammlung Gesetzentwürfe vorzulegen.<br />
Seit 1995 sind auf diesem Weg über 100 Gesetze<br />
verabschiedet worden.<br />
Ein besonderer Aspekt der Autonomie Gagausiens ist<br />
das Recht des Regions-präsidenten auf Mitwirkung an<br />
der Regierung Moldawiens, wenn die Kompetenzen<br />
Gagausiens betroffen sind. Auch Mitglieder der<br />
gagausischen Regierung können an der Politik<br />
Molda-wiens auf Ministerebene mitwirken. Dieser<br />
Mechanismus sollte zu einer besseren Koordinierung,<br />
wenn nicht gar Kooptation der führenden Politiker<br />
Gagausiens in die staatliche Exekutive führen, was<br />
jedoch bisher nicht umgesetzt wurde.<br />
Die autonome Region hat auch ein im Autonomiegesetz<br />
verankertes Recht, sich an den Außenbeziehungen<br />
Moldawiens zu beteiligen. Ausgehend von seiner<br />
türkischen Kultur und Ethnizität unterhält Gagausien<br />
enge Beziehungen mit Ankara und baut die<br />
Wirtschaftszusammenarbeit mit der Türkei aus.<br />
Gagausien hat auch mit der ukrainischen Nachbarprovinz<br />
Odessa verschiedene Kooperationsabkommen<br />
abgeschlossen und strebt ähnliche Abkommen mit<br />
russischen Provinzen an. Die Ukraine und die Türkei<br />
haben Entwicklungshilfe und Investitionen zugesagt.<br />
Der Besuch des türkischen Präsi-denten Demirel in<br />
Gagausien 1994 war mitentscheidend <strong>für</strong> die schnelle<br />
Gewährung der Autonomie. 1998 stattete Demirel<br />
Gagausiens einen neuen Besuch ab und bezeichnete<br />
es als eine Brücke der Freundschaft zwischen beiden<br />
Ländern. 201 Somit hat die Türkei eine Art Schutzmachtfunktion<br />
<strong>für</strong> die Autonomie Gagausiens übernommen.<br />
Sie finanziert u.a. die Hochschule in Comrat, das<br />
größte Informations- und Kulturzentrum in Comrat,<br />
das Comrat-TIKA, und die Atatürk-Bibliothek. Es<br />
gibt einen Rundfunksender und verschiedene<br />
Nachrichtenmagazine in gagausischer Sprache.<br />
1989 bezeichneten 87,5% der Bevölkerung Gagausiens<br />
Gagausisch als ihre Muttersprache. Doch 1998 wurde<br />
erhoben, dass nur 37,8% der erwachsenen Gagausen<br />
Gagausisch schreiben und nur 44,1% diese Sprache<br />
im privaten Alltag verwenden. Als Unterrichtssprache<br />
in den öffentlichen Schulen Gagausiens zogen 80,6%<br />
der Familien Russisch vor, während nur 7,2% sich<br />
ausschließlich Gagausisch oder in Kombination mit<br />
anderen Sprachen als Vehikularsprache der Schule<br />
wünschten. 202 Das erst 1957 eingeführte geschriebene<br />
Gagausisch hat sich offensichtlich noch nicht voll unter<br />
den Gagausen eingebürgert. Heute verwenden selbst<br />
Gagausen in ihrem Umfeld laufend drei Sprachen,<br />
nämlich Russisch, Moldawisch und Gagausisch und<br />
dann auch weitere Fremdsprachen. Man be<strong>für</strong>chtet<br />
schon, dass diese sprachliche Überlastung die Qualität<br />
des Unterrichts beeinträchtigen wird. Die allgemeine<br />
kulturelle Entwicklung Gagausiens scheint hingegen<br />
durch die Autonomie einen erheblichen Auftrieb<br />
erfahren zu haben.<br />
Zwei weitere Artikel des Autonomie-gesetzes sind<br />
aus gagausischer Sicht von größter Bedeutung.<br />
Erstens, als Träger der autonomen Region Gagausien<br />
(Gagauz Yeri) wird das gagausische Volk benannt.<br />
Somit werden die Gagausen nicht als Minderheit<br />
oder Volksgruppe definiert, sondern als Volk,<br />
dessen Selbstbestimmungsrecht anerkannt wird.<br />
Zweitens, das Autonomiegesetz trug der historischen<br />
Be<strong>für</strong>chtung der Gagausen Rechnung, dass Moldawien<br />
wieder Rumänien einverleibt werden könnte, wie<br />
bereits in den Zeiträumen 1918-1940 und 1941-44<br />
geschehen. 203 Mit der expliziten Zuerkennung des<br />
201 Vgl. http://www.ecmimoldova.org/: Berichterstattung über<br />
Gagausien des European Centre of Minority Issues, Flensburg.<br />
202 Priit Järve, ebd., S. 440<br />
203 Der Artikel besagt: “Im Fall der Änderung des Status der Republik<br />
Moldawien als unabhängiger Staat hat das gagausische Volk