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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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5.3 Funktionale Elemente<br />

von Territorialautonomie<br />

Die heute funktionierenden Territorialautonomien<br />

haben einerseits zahlreiche Grundelemente<br />

gemeinsam, unterscheiden sich andererseits in<br />

ihrer Entstehungsgeschichte, geographischen<br />

Lage, Art der ethnischen Zusammensetzung und<br />

im politischen Kontext des jeweiligen Staats.<br />

Territorialautonomien sind ein Gefüge von<br />

Institutionen und Verfahren, das auf einem komplexen<br />

rechtlichen Regelwerk gründet (in Staatsgesetz<br />

oder Verfassung verankertes Autonomiestatut, im<br />

Detail umgesetzt durch Anwendungsdekrete oder<br />

Durchführungsbestimmungen). Die Durchführung<br />

einer Autonomie ist ein offener Prozess, der in<br />

ständiger Wechselwirkung mit der gesamtstaatlichen<br />

Gesetzgebung erfolgt. Der Vollzug von Autonomie als<br />

eigenständige Gestaltung der Politik innerhalb der<br />

Region durch frei gewählte regionale Vertreter erfolgt<br />

dann durch Rechtsakte der autonomen Organe.<br />

Obwohl das grundlegende Ziel der meisten bestehenden<br />

Territorialautonomien ähnlich oder identisch ist -<br />

territoriale Selbstregierung zum Zweck des Schutzes<br />

besonderer Gruppenidentitäten und Steuerung<br />

der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung der<br />

Region - ist das konkrete „Design“ der jeweiligen<br />

Autonomie Ergebnis der dialektischen Beziehung<br />

zwischen der jeweiligen autonomen Gemeinschaft<br />

und dem Zentralstaat. Die Leistungsfähigkeit einer<br />

Territorialautonomie hinsichtlich Friedenssicherung,<br />

politischer Stabilität, Schutz der Minderheitenrechte,<br />

Interessenausgleich zwischen ethnischen Gruppen,<br />

Wohlstand und soziale Sicherheit könnte durchaus<br />

durch geeignete Variablen operationalisiert und<br />

quantitativ erfasst werden. Im Ergebnis könnte diese<br />

Messung einen Vergleich des Outputs (performance)<br />

eines Autonomiesystems ermöglichen, wovon<br />

sich theoretisch Optimallösungen oder zumindest<br />

Fälle beispielhafter Praxis ableiten ließen. Da die<br />

vielschichtige Rechtsstruktur der zahlreichen<br />

<strong>Autonomiesysteme</strong> (mindestens 60 derzeit) nicht<br />

gesamthaft verglichen werden kann, muss ein<br />

Vergleich notwendigerweise die Kernfunktionen in<br />

den Blick nehmen, die jede Territorialautonomie zu<br />

regulieren hat. Als Kernfunktionen lassen sich folgende<br />

bestimmen:<br />

1 Die politische Vertretung<br />

„Die gesetzgebende Funktion in einem<br />

gewaltenteilenden und demokratischen System muss<br />

5 Schlussfolgerungen<br />

regelmäßig von einer parlamentarischen Körperschaft<br />

wahrgenommen werden, die von den Wahlberechtigten<br />

eines bestimmten Gebiets direkt oder indirekt gewählt<br />

wird.“ 376 Die politische Vertretung in allen geeigneten<br />

Institutionen gewährleistet die demokratische<br />

Vertretung der regionalen Bevölkerung auf allen<br />

Ebenen. Der institutionelle Aufbau einer autonomen<br />

Region schließt die Regelung der Regierungsform,<br />

der politischen Vertretungsrechte und der Vertretung<br />

der Bevölkerung im Gesamtstaat ein. Die Formen<br />

konkordanzdemokratischer Beteiligung aller<br />

ethnischen Gruppen einer Region an den politischen<br />

Entscheidungen bildet sowohl ein Verfahrenselement<br />

<strong>für</strong> die innere Konfliktregulierung, als auch ein<br />

Strukturelement des Aufbaus der demokratischen<br />

Organe einer autonomen.<br />

2 Gesetzgebungshoheit und Zuständigkeitsbereiche<br />

Regionale Gesetzgebungshoheit ist eine<br />

Kernvoraussetzung <strong>für</strong> das Vorliegen von<br />

Autonomie. 377 Beim Umfang der an eine autonome<br />

Region übertragenen Kompetenzen in Legislative,<br />

Exekutive und Gerichtsbarkeit bestehen ein erhebliche<br />

Unterschiede zwischen den 37 autonomen Regionen<br />

Europas. Am unteren Ende befindet sich Korsika,<br />

das eigentlich als bloße Verwaltungsautonomie<br />

einzustufen ist. Am oberen Ende befinden sich die<br />

nordischen Inseln (die Färöer, Grönland und die Åland-<br />

Inseln), die dem Zentralstaat nur bei der Außen- und<br />

Verteidigungspolitik, in der Währungs- und Geldpolitik,<br />

beim Zivil- und Strafrecht den Vortritt lassen müssen.<br />

In der Verwaltung und Gestaltung der Judikative<br />

haben einige autonome Regionen wie Katalonien und<br />

das Baskenland bereits bedeutsame Zuständigkeiten<br />

erhalten. Ein Grundmerkmal zieht sich allerdings<br />

durch alle Autonomieregelungen Europas: alle<br />

Politikfelder, die <strong>für</strong> die kulturelle Identität der Region<br />

und seiner Minderheiten sowie <strong>für</strong> ihre soziale und<br />

wirtschaftliche Entwicklung wichtig sind, liegen in<br />

autonomer Kompetenz. Diese werden in der Regel in<br />

376 Anna Gamper (2004), S.94;<br />

377 Das theoretische Konzept der regionalen Gesetzgebungshoheit<br />

findet seinen Ursprung in der Verschmelzung demokratischer<br />

und föderaler Gedanken: Gesetzgebungshoheit wird demnach als<br />

tiefster Ausdruck der ursprünglichen Selbstständigkeit und Unabgeleitetheit<br />

des regionalen demos verstanden und bildet insofern –<br />

insbesondere in seiner höchsten Form der regionalen Verfassungsautonomie<br />

– eine Ausformung des Prinzips der Volkssouveränität.<br />

Letztlich verlangt dieses ja, dass die verfassunggebende Gewalt, der<br />

pouvoir constituant, beim Volk liegt.“ Anna Gamper, Regionen, S.<br />

90. Regionale Verfassungsautonomie als „demokratische Selbstordnungsbefugnis“<br />

(Anna Gamper) stellt zwar die höchste Form der<br />

Gesetzgebungsautonomie einer Region dar, muss aber in einer Territorialautonomie<br />

nicht zwingend vorhanden sein.<br />

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