Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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3.1 Südtirol und Italiens<br />
autonome Regionen<br />
3 Territorialautonomie am Werk<br />
Italien ist als unabhängiger Staat 1861 aus der<br />
Vereinigung mehrerer Kleinstaaten und Königreiche<br />
unter der Savoyer-Dynastie entstanden. Die von<br />
Italienern bewohnten Gebiete (mit Ausnahme des<br />
Tessin) wurden allerdings erst nach dem 1. Weltkrieg<br />
vereint, als auch das Trentino und Triest sowie Teile<br />
Istriens und Dalmatiens dem Königreich Italien<br />
zugesprochen wurden. Gleichzeitig kamen auch<br />
Gebiete mit nicht-italienischer Bevölkerung zu Italien<br />
wie Südtirol und Teile Istriens und Dalmatiens. In der<br />
ersten Zeit des „nation building“ stand im Unterschied<br />
zur nationalen Einheit und Identität die Frage der<br />
Regionalautonomie noch nicht auf der Tagesordnung.<br />
Das faschistische Regime Benito Mussolinis (1922-<br />
1943) übersteigerte diese Tendenz zum autoritären<br />
Zentralismus.<br />
Nach dem 2. Weltkrieg änderte Italien sein politisches<br />
System: 1946 wurde die Monarchie durch eine<br />
demokratische Republik ersetzt und mit der neuen<br />
Verfassung von 1948 mutierte der Einheitsstaat in einen<br />
Regionalstaat. 124 Die am 1.1.1948 in Kraft getretene<br />
demokratische Verfassung führte 20 Regionen<br />
als wichtigste Territorialeinheiten des Staates mit<br />
legislativen und exekutiven Befugnissen ein. Dennoch<br />
benötigten die herrschenden Parteien nicht weniger als<br />
22 Jahre, nämlich bis 1970, um die sog. „Regionen mit<br />
Normalstatut“ mit demokratisch gewählten Regionalversammlungen<br />
und Regionalregierungen in Kraft zu<br />
setzen. 1972 wurden neue Regionalstatuten <strong>für</strong> diese<br />
15 Regionen vom Parlament genehmigt.<br />
Andererseits gibt es in Italien, neben seinem<br />
ausgeprägten Nord-Süd-Gefälle und seiner regionalen<br />
Vielfalt, auch einige unter ethnisch-sprachlichem und<br />
historischem Aspekt besondere Regionen. Im Norden<br />
sind dies die drei Regionen mit nationalen Minderheiten,<br />
die nach dem 2. Weltkrieg die Selbstbestimmung<br />
oder zumindest einen Sonderstatus verlangten: das<br />
Aostatal mit einer franko-provenzalischen Bevölkerung,<br />
Friaul-Julisch Venetien mit einer slowenischen und<br />
rätoromanischen Minderheit und Südtirol mit seiner<br />
mehrheitlich deutschsprachigen Bevölke-rung und<br />
einer ladinischen Minderheit. Im Süden forderte<br />
Sizilien zunächst sogar die Unabhängigkeit, dann<br />
Autonomie genauso wie Sardinien, das eine vom<br />
Italienischen verschiedene Sprache als autochthone<br />
124 Die italienische Verfassung findet sich unter: http://www.eurac.edu/miris<br />
Sprache aufweist. Aus diesen Gründen wurde diesen<br />
fünf Regionen ein Sonderstatus zugebilligt und in der<br />
Verfassung verankert. In diesem Band wird jedoch<br />
von diesen fünf Regionen nur die „Autonome Provinz<br />
Bozen“ (amtlich: Südtirol-Alto Adige) kurz analysiert.<br />
In den 90er Jahren entstand in den stark<br />
industrialisierten Regionen des Nordens erheblicher<br />
politischer Druck <strong>für</strong> mehr Autonomie. Diese Regionen<br />
wuchsen einerseits wirtschaftlich schneller als der Rest<br />
Italiens, andererseits tragen sie auch die finanzielle<br />
Last des Zentralstaats und des rückständigen Südens.<br />
Die reicheren Regionen verlangen eine „devolution“,<br />
nämlich die Übertragung weiterer Befugnisse sowie eine<br />
Verringerung der Steuerlast. Der Zentralstaat wurde<br />
zunehmend als unproduktiver und verschwenderischer<br />
Apparat wahrgenommen. Immer mehr Bürger<br />
verlangten mehr Entscheidungsbefugnisse bezüglich<br />
der Gestaltung des modernen Wohlfahrtssystems auf<br />
regionaler Ebene.<br />
2001 schloss Italien einen ersten Reformprozess<br />
seiner Verfassung ab, der die Rolle der Regionen mit<br />
Normalstatut und der übrigen Lokalverwaltung stärkte.<br />
Eine entsprechende Verfassungsänderung wurde in<br />
einer Volksabstimmung im Herbst 2001 bestätigt. Alle<br />
Regionen und Lokal-körperschaften genießen jetzt<br />
„gleiche Würde und Rang“ und erhielten zusätzliche<br />
Kompetenzen. Eine neue Aufteilung der Macht<br />
zwischen Zentralstaat und Regionen wurde eingeführt<br />
und deren Gesetzgebungskompetenzen gestärkt.<br />
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