Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
Föderalismus, der auf der substaatlichen Ebene oder<br />
auch neben den Föderalsubjekten Territorialautonomie<br />
als Sonderlösung <strong>für</strong> bestimmte Minderheiten<br />
oder indigene <strong>Völker</strong> eingerichtet hat. Dieser<br />
Prozess ist jedoch Untersuchungsgegenstand der<br />
Föderalismusforschung.<br />
Die neuen Autonomien Osteuropas, die erst seit<br />
einem knappen Jahrzehnt in Funktion sind, befinden<br />
sich noch in einer Aufbauphase mit widersprüchlichen<br />
Entwicklungen der interethnischen Beziehungen. In<br />
der Autonomen Republik Krim z.B. haben die Russen<br />
ihre dominante Rolle behalten, während die Tataren<br />
die Folgen der kollektiven Deportation in den 40er<br />
Jahren durch Stalin noch nicht überwunden haben.<br />
Tatarstan bildet wiederum ein positives Modell<br />
der Konfliktlösung innerhalb Russlands mit einer<br />
gleichgewichtigen Aufteilung der Macht zwischen<br />
Moskau und der ethnisch gemischten Autonomen<br />
Republik Tatarstan. Wenn man sich die immer noch<br />
andauernde Gewalt in Tschetschenien vor Augen hält,<br />
kann die Einsicht wachsen, dass Autonomie-lösungen<br />
konkret angegangen werden müssen, bevor eine<br />
gewisse Gewaltbereit-schaft zum flächendeckenden<br />
Krieg eskaliert. Besondere Bedeutung haben die<br />
Autonomien der Ukraine und Moldawiens auch als<br />
Pioniere einer friedlichen Konfliktlösung in diesem<br />
Teil Europas, der seit 1990 neuen Nationalismus,<br />
Staatszentra-lismus und die Ablehnung von Autonomie<br />
und Föderalismus erlebt. In diesem Kontext werden<br />
Gagausien, die Vojvodina und die Krim als Wegbereiter<br />
<strong>für</strong> eine Reihe weiterer Regionen betrachtet, die volle<br />
Autonomie anstreben (die Albaner Mazedoniens, die<br />
Ungarn in Transsilvanien und der Slowakei, die Türken<br />
Bulgariens, die Ruthenen oder Rusynen der Ukraine<br />
und andere Regionen des nördlichen Kaukasus).<br />
Andere Staaten, die mit sezessionistischen Bewegungen<br />
konfrontiert sind, wie Zypern (Nordzypern),<br />
Moldawien (Transnistrien) und Georgien (Abchasien<br />
und Südossetien), sind dabei, Möglichkeiten zur<br />
Reintegration dieser Regionen zu erkunden, wobei eine<br />
weitgehende Autonomie eine der möglichen Optionen<br />
ist. Autonomie wird dabei zunehmend als Lösungsweg<br />
<strong>für</strong> Selbstbestimmungskonflikte gesehen, während<br />
sie früher meist als Schritt zur Sezession betrachtet<br />
wurde. 372<br />
372 Auch gewaltbereite Teile von Selbstbestimmungsbewegungen<br />
wie etwa die ETA im Baskenland und einige nationalistische<br />
Gruppen auf Korsika gaben ihre Strategie gewaltsamer Angriffe<br />
nach dem Beispiel der IRA größtenteils auf, nachdem Autonomie in<br />
bestimmtem Umfang gewährt wurde. Anscheinend hat eine wachsende<br />
Zahl von Staaten zur Kenntnis genommen, dass durch Autonomie<br />
nationale Minderheiten besser in den Staat integriert und<br />
Konfliktsituationen stabilisiert werden können, die ansonsten außer<br />
Während Territorialautonomie in Amerika, Ozeanien<br />
und Afrika eine Seltenheit geblieben ist, erhält<br />
sie in Asien zunehmende Bedeutung. Die Hauptinteressierten<br />
an der Errichtung von Autonomie sind<br />
auch hier wieder indigene <strong>Völker</strong>. In Amerika setzte das<br />
kleine Volk der Kuna schon 1925 ein Beispiel <strong>für</strong> ein<br />
neues und anderes Verhältnis zwischen Zentralstaaten<br />
und Indianervölkern, nämlich weder die sonst übliche<br />
kulturelle Assimilierung noch die Errichtung ethnischer<br />
Reservate, die zur kulturellen Isolierung führen. Die<br />
Comarca Kuna Yala hat Territorialautonomie, doch<br />
genießen die Kuna auch dieselben Rechte auf politische<br />
Beteiligung wie alle übrigen Staatsbürger Panamas.<br />
Kanada räumte ebenfalls dem kleinen indigenen Volk<br />
der Inuit Autonomie ein. Nunavut ist mit Grönland<br />
der Fläche nach die größte autonome Region der<br />
Erde und hat eine vorbildhafte umfassende Regelung<br />
aller Grundrechte eines indigenen Volkes auf seinem<br />
angestammten Territorium erreicht. Das Verhältnis<br />
zwischen dem kanadischen Bundesstaat und der<br />
Provinz Québec fällt hingegen eher in die Kategorie<br />
„asymmetrischer Föderalismus“.<br />
Die Autonomie der Atlantikregion Nicaraguas ist mit<br />
ernsten Herausforderungen konfrontiert: sie muss<br />
den indigenen <strong>Völker</strong>n Schutz bieten, das Gebiet vor<br />
zu starker Ausbeutung seiner Ressourcen schützen<br />
und kann nur auf dem konkordanzdemokratischen<br />
Weg von Indigenen und Mestizen gemeinsam regiert<br />
werden. Somit werden beide <strong>Autonomiesysteme</strong>, jene<br />
Nicaraguas und jene Panamas, von vielen indigenen<br />
<strong>Völker</strong>n von Kanada bis Chile kritisch beobachtet,<br />
stehen diese doch vor mehreren Optionen politischräumlicher<br />
Organisation:<br />
• Indianerreservate oder „resguardos“,<br />
ein Auslaufmodell von „ethnischer<br />
Autonomie“ ausschließlich <strong>für</strong> eine indigene<br />
Gemeinschaft;<br />
• ein System staatsweiter Dezentralisierung<br />
verbunden mit Institutionen von<br />
Kulturautonomie und Selbstverwaltung auf<br />
lokaler Ebene;<br />
• Territorialautonomie, die bisher die absolute<br />
Ausnahme darstellt.<br />
Welcher Weg die beste Garantie <strong>für</strong> die Einlösung ihrer<br />
Rechte darstellt, ist noch offen.<br />
Afrika bildet in der weltweiten „Szene der <strong>Autonomiesysteme</strong>“<br />
wiederum eine Ausnahme. Der ausgeprägte<br />
Nationalismus gerade in ethnisch fragmentierten<br />
Staaten und die allgemeine Schwäche von Rechtsstaat<br />
und Demokratie sind als Rahmenbedingungen<br />
Kontrolle geraten.