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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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246<br />

<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />

5.2 Der Mindeststandard<br />

einer Territorialautonomie<br />

Wie in Kapitel 2.2 und 2.10 ausgeführt, kann man<br />

von einer “echten Territorialautonomie” ausgehen,<br />

wenn einige grundlegende Erfordernisse erfüllt sind:<br />

demokratisch gewählte Vertreter repräsentieren<br />

die Bevölkerung einer Region in den regionalen und<br />

nationalen Institutionen, rechtsstaatliche Regeln bieten<br />

die Möglichkeit, den Zentralstaat bei unrechtmäßigen<br />

Eingriffen in die Autonomie oder bei Nichterfüllung von<br />

Autonomievereinbarungen zu verklagen; die Region<br />

hat Gesetzgebungsbefugnisse (das Recht, Recht zu<br />

schaffen, nicht bloß anzuwenden) und das regionale<br />

Parlament und Regierung müssen vom Zentralstaat<br />

unabhängig sein. Über diese grundlegenden<br />

Definitionskriterien einer Territorialautonomie<br />

hinaus kann die Ausgestaltung einer Autonomie so<br />

flexibel sein wie der Aufbau eines Bundesstaats oder<br />

Regionalstaats. Autonomie ist ein offener Prozess, der<br />

von der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung und<br />

somit vom Bedarf der Verbesserung von Effizienz und<br />

Qualität einer Autonomie angetrieben wird und auf ein<br />

stabiles Gleichgewicht der Gewaltenteilung abzielt.<br />

Jede der heute bestehenden Territorialautonomien<br />

weist dabei ihre spezifischen kulturpolitischen und<br />

geschichtlichen Aspekte, politischen Interessen,<br />

sozialen Faktoren, ethnischen und religiösen<br />

Besonderheiten, und sozialpsychologischen Feinheiten<br />

auf.<br />

Ausgehend vom oben grob umrissenen theoretischen<br />

Konzept der Autonomie können einige Funktionen<br />

einer Autonomie festgelegt werden, die eine Art<br />

Mindeststandard bilden. Dieser unter-scheidet sich<br />

von einem hypothetischem Optimum, das kaum<br />

definiert werden kann, sondern dem fortwährenden<br />

Verhandlungsprozess innerhalb der Dynamik eines<br />

lebendigen politischen Systems unterliegt. 374 Mit<br />

Blick auf die Befugnisse, die vom Zentralstaat auf<br />

die autonome Region übertragen werden müssen,<br />

muss da<strong>für</strong> gesorgt werden, dass die autonomen<br />

Institutionen tatsächlich <strong>für</strong> den Schutz der<br />

Minderheitenkultur und Minderheitenidentität sorgen<br />

können. Im Vordergrund steht dabei der Schutz und die<br />

Gleichberechtigung der Minderheitensprache, die das<br />

in den meisten Fällen das bedeutendste Merkmal einer<br />

kulturellen Gruppenidentität darstellt. Jedes einzelne<br />

374 Vgl. zu diesem Kapitel Ulrich Schneckener (2002), Auswege<br />

aus dem Bürgerkrieg, Ed. Suhrkamp, Frankfurt; Marc Weller/Stefan<br />

Wolff (ed. 2005), Autonomy, Self-Governance and Conflict resolution,<br />

Routledge<br />

Mitglied einer Minderheit muss seine Muttersprache<br />

verwenden können und die regionalen Sprachen<br />

müssen offiziellen Rang mit denselben Rechten und<br />

Möglichkeiten genießen wie die vorherrschende<br />

offizielle Staatssprache.<br />

Das Konzept des “Mindeststandards einer<br />

Territorialautonomie” unterscheidet sich von der<br />

hypothetischen Formulierung von Optimalmodellen,<br />

die kaum am Reißbrett entworfen werden können,<br />

sondern Ergebnis eines länger währenden<br />

Verhandlungsprozesses und der politischen Dynamik<br />

zwischen Region und Zentralstaat sind. Ein solches<br />

Konzept von Mindeststandard kann jedoch zur<br />

Erkenntnis verhelfen, ob Territorialautonomie in<br />

konkreten Konfliktfällen ein geeignete Grundlage <strong>für</strong><br />

die Lösung eines Konflikts mit ethnischem Hintergrund<br />

bilden kann.<br />

<strong>Autonomiesysteme</strong> sind vor allem dort errichtet<br />

worden, wo eine nationale Minderheit oder ein<br />

kleineres als das Staatsvolk in seinem angestammten<br />

Siedlungsgebiet als lokale Mehrheitsbevölkerung<br />

lebt und wo zudem die meisten Mitglieder dieser<br />

Minderheit in einer abgrenzbaren Region leben (z.B. die<br />

deutschsprachigen Südtiroler, die Basken Spaniens,<br />

die Schotten, die Färöer, die Acehnesen in Aceh,<br />

die Gagausen in Gagausien usw.). Die Abgrenzung<br />

der mit Autonomie auszustattenden Region ist im<br />

Einverständnis mit der betroffenen Minderheit zu<br />

treffen. Einige geschichtliche Erfahrungen haben<br />

gezeigt, dass andernfalls ein Autonomiesystem<br />

nicht von Dauer und Stabilität ist, wenn Mehrheiten<br />

des Staatsvolkes innerhalb von autonomen Region<br />

künstlich gebildet werden, um die Kontrolle <strong>für</strong><br />

den Zentralstaat auf diesem Weg zu sichern. In der<br />

Realität sind die Grenzen einer autonomen Region<br />

meist durch geschichtlich vorgegebene Grenzen<br />

oder geografische Grenzen (Inseln oder Halbinseln)<br />

vorgegeben. Andernfalls müsste ein demokratisches<br />

Verfahren zur Anwendung kommen, das es in den<br />

fraglichen Gebieten der Bevölkerung erlaubt, den<br />

geografischen Umfang der zu schaffenden autonomen<br />

Region mitzubestimmen und eventuell über ihre<br />

Zugehörigkeit dazu frei zu entscheiden.<br />

Demokratie ist nicht nur ein grundlegendes<br />

Bestimmungskriterium <strong>für</strong> Territorialautonomie,<br />

sondern muss in ihrer Ausgestaltung auch<br />

einen bestimmten Mindeststandard erreichen.<br />

Territorialautonomie verlangt eine gewählte<br />

Regionalversammlung mit per Verfassung oder

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