Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
5.2 Der Mindeststandard<br />
einer Territorialautonomie<br />
Wie in Kapitel 2.2 und 2.10 ausgeführt, kann man<br />
von einer “echten Territorialautonomie” ausgehen,<br />
wenn einige grundlegende Erfordernisse erfüllt sind:<br />
demokratisch gewählte Vertreter repräsentieren<br />
die Bevölkerung einer Region in den regionalen und<br />
nationalen Institutionen, rechtsstaatliche Regeln bieten<br />
die Möglichkeit, den Zentralstaat bei unrechtmäßigen<br />
Eingriffen in die Autonomie oder bei Nichterfüllung von<br />
Autonomievereinbarungen zu verklagen; die Region<br />
hat Gesetzgebungsbefugnisse (das Recht, Recht zu<br />
schaffen, nicht bloß anzuwenden) und das regionale<br />
Parlament und Regierung müssen vom Zentralstaat<br />
unabhängig sein. Über diese grundlegenden<br />
Definitionskriterien einer Territorialautonomie<br />
hinaus kann die Ausgestaltung einer Autonomie so<br />
flexibel sein wie der Aufbau eines Bundesstaats oder<br />
Regionalstaats. Autonomie ist ein offener Prozess, der<br />
von der Dynamik gesellschaftlicher Entwicklung und<br />
somit vom Bedarf der Verbesserung von Effizienz und<br />
Qualität einer Autonomie angetrieben wird und auf ein<br />
stabiles Gleichgewicht der Gewaltenteilung abzielt.<br />
Jede der heute bestehenden Territorialautonomien<br />
weist dabei ihre spezifischen kulturpolitischen und<br />
geschichtlichen Aspekte, politischen Interessen,<br />
sozialen Faktoren, ethnischen und religiösen<br />
Besonderheiten, und sozialpsychologischen Feinheiten<br />
auf.<br />
Ausgehend vom oben grob umrissenen theoretischen<br />
Konzept der Autonomie können einige Funktionen<br />
einer Autonomie festgelegt werden, die eine Art<br />
Mindeststandard bilden. Dieser unter-scheidet sich<br />
von einem hypothetischem Optimum, das kaum<br />
definiert werden kann, sondern dem fortwährenden<br />
Verhandlungsprozess innerhalb der Dynamik eines<br />
lebendigen politischen Systems unterliegt. 374 Mit<br />
Blick auf die Befugnisse, die vom Zentralstaat auf<br />
die autonome Region übertragen werden müssen,<br />
muss da<strong>für</strong> gesorgt werden, dass die autonomen<br />
Institutionen tatsächlich <strong>für</strong> den Schutz der<br />
Minderheitenkultur und Minderheitenidentität sorgen<br />
können. Im Vordergrund steht dabei der Schutz und die<br />
Gleichberechtigung der Minderheitensprache, die das<br />
in den meisten Fällen das bedeutendste Merkmal einer<br />
kulturellen Gruppenidentität darstellt. Jedes einzelne<br />
374 Vgl. zu diesem Kapitel Ulrich Schneckener (2002), Auswege<br />
aus dem Bürgerkrieg, Ed. Suhrkamp, Frankfurt; Marc Weller/Stefan<br />
Wolff (ed. 2005), Autonomy, Self-Governance and Conflict resolution,<br />
Routledge<br />
Mitglied einer Minderheit muss seine Muttersprache<br />
verwenden können und die regionalen Sprachen<br />
müssen offiziellen Rang mit denselben Rechten und<br />
Möglichkeiten genießen wie die vorherrschende<br />
offizielle Staatssprache.<br />
Das Konzept des “Mindeststandards einer<br />
Territorialautonomie” unterscheidet sich von der<br />
hypothetischen Formulierung von Optimalmodellen,<br />
die kaum am Reißbrett entworfen werden können,<br />
sondern Ergebnis eines länger währenden<br />
Verhandlungsprozesses und der politischen Dynamik<br />
zwischen Region und Zentralstaat sind. Ein solches<br />
Konzept von Mindeststandard kann jedoch zur<br />
Erkenntnis verhelfen, ob Territorialautonomie in<br />
konkreten Konfliktfällen ein geeignete Grundlage <strong>für</strong><br />
die Lösung eines Konflikts mit ethnischem Hintergrund<br />
bilden kann.<br />
<strong>Autonomiesysteme</strong> sind vor allem dort errichtet<br />
worden, wo eine nationale Minderheit oder ein<br />
kleineres als das Staatsvolk in seinem angestammten<br />
Siedlungsgebiet als lokale Mehrheitsbevölkerung<br />
lebt und wo zudem die meisten Mitglieder dieser<br />
Minderheit in einer abgrenzbaren Region leben (z.B. die<br />
deutschsprachigen Südtiroler, die Basken Spaniens,<br />
die Schotten, die Färöer, die Acehnesen in Aceh,<br />
die Gagausen in Gagausien usw.). Die Abgrenzung<br />
der mit Autonomie auszustattenden Region ist im<br />
Einverständnis mit der betroffenen Minderheit zu<br />
treffen. Einige geschichtliche Erfahrungen haben<br />
gezeigt, dass andernfalls ein Autonomiesystem<br />
nicht von Dauer und Stabilität ist, wenn Mehrheiten<br />
des Staatsvolkes innerhalb von autonomen Region<br />
künstlich gebildet werden, um die Kontrolle <strong>für</strong><br />
den Zentralstaat auf diesem Weg zu sichern. In der<br />
Realität sind die Grenzen einer autonomen Region<br />
meist durch geschichtlich vorgegebene Grenzen<br />
oder geografische Grenzen (Inseln oder Halbinseln)<br />
vorgegeben. Andernfalls müsste ein demokratisches<br />
Verfahren zur Anwendung kommen, das es in den<br />
fraglichen Gebieten der Bevölkerung erlaubt, den<br />
geografischen Umfang der zu schaffenden autonomen<br />
Region mitzubestimmen und eventuell über ihre<br />
Zugehörigkeit dazu frei zu entscheiden.<br />
Demokratie ist nicht nur ein grundlegendes<br />
Bestimmungskriterium <strong>für</strong> Territorialautonomie,<br />
sondern muss in ihrer Ausgestaltung auch<br />
einen bestimmten Mindeststandard erreichen.<br />
Territorialautonomie verlangt eine gewählte<br />
Regionalversammlung mit per Verfassung oder