Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
178<br />
3.20 Territorialautonomie<br />
in Indien<br />
3.20.1 Das indische Modell eines<br />
asymmetrischen Bundesstaats<br />
Indien ist ein Bundesstaat mit 29 Gliedstaaten und<br />
7 „Unionsterritorien“, die von der Bundesregierung<br />
in Neu Delhi direkt regiert werden. Die größte<br />
demokratische Republik der Welt gab sich 1950 eine<br />
föderale Ordnung, um den enormen Herausforderungen<br />
seiner geographischen Größe, seiner kulturellen<br />
Vielfalt und seines sozialen und religiösen Pluralismus<br />
gerecht zu werden. Doch hielten sich die Gründer<br />
der Indischen Union nicht durchgehend an föderale<br />
Prinzipien, sondern versuchten, möglichst viele<br />
Zügel in der Hand der Unionsregierung zu belassen.<br />
Im Ergebnis tritt die Indische Union als eine<br />
teilweise zentralstaatlich organisierte Föderation<br />
mit einigen asymmetrischen Elementen auf. Die<br />
Zentralregierung und das Unionsparlament behielten<br />
nämlich ein <strong>für</strong> Bundesstaaten ungewöhnliches<br />
Ausmaß an Entscheidungsmacht, vor allem auch bei<br />
Eingriffsrechten in die Gliedstaaten. In jedem Gliedstaat<br />
Indiens ist die Union durch einen Gouverneur vertreten,<br />
der vom Staatspräsidenten auf 5 Jahre ernannt wird.<br />
Dieser Gouverneur hat u. a. das Recht, das Parlament<br />
des jeweiligen Gliedstaats aufzulösen.<br />
Ein besonderer Autonomiestatus wurde in der<br />
Verfassung von 1947 Jammu und Kaschmir<br />
eingeräumt und später auch den Staaten des<br />
Nordostens. Nach 1950 wurden außerdem einige<br />
Gebiete zu „Unionsterritorien“ erklärt, die unter der<br />
Aufsicht der Zentralregierung stehen. 259 Jedes dieser<br />
Unionsterritorien wird direkt von einem Minister der<br />
Unionsregierung und von ihm ernannten Beamten<br />
verwaltet, die dem indischen Staatspräsidenten direkt<br />
verantwortlich sind. Die sieben Unionsterritorien<br />
werden im Unterhaus des Unionsparlaments (Lok<br />
Sabha) durch 13 gewählte Abgeordnete vertreten.<br />
Diese Territorien unterscheiden sich sowohl von<br />
den substaatlichen autonomen Gebieten als auch<br />
von den Gliedstaaten, da sie über nur geringe<br />
Selbstverwaltungskompetenzen verfügen.<br />
Die indische Verfassung von 1947 war eine <strong>für</strong> ihre<br />
Zeit sehr innovative Verfassung, nicht nur wegen<br />
259 Die indischen Unionsterritorien sind: die Andamanen und Nikobaren<br />
Inseln, Chandigarh, Dadra und Nagar Haveli, das Hauptstadterritorium<br />
von Delhi, Daman und Diu, Lakshadweep, Pondicherry.<br />
der Anerkennung der Verschiedenheiten innerhalb<br />
der Union, sondern auch bei der Zuerkennung von<br />
Vertretungsrechten <strong>für</strong> die verschiedenen Gruppen<br />
in den formalen, demokratischen Institutionen. 260<br />
Die Union und die Gliedstaaten setzten zahlreiche<br />
Bestimmungen in Kraft, um die Benachteiligung von<br />
lange diskriminierten Gruppen wie die unteren Kasten<br />
und die indigenen Stammesvölkern abzubauen und<br />
zu verhindern. Im Zivilrecht und bei den individuellen<br />
Grundrechten wurde auf die Religionsgemeinschaften<br />
Bedacht genom-men. Im kulturellen Bereich und im<br />
Bildungswesen wurde den sprachlichen und religiösen<br />
Minderheiten Rechte auf Schutz und Förderung<br />
eingeräumt. Das Verfassungsrecht und Staatsrecht<br />
Indiens anerkannte vier Kategorien von Identitätsbildung<br />
und leitete davon Minderheitenschutzrechte ab:<br />
die Religion, die Sprache, die Region und die Kaste.<br />
Fragen der Gruppenautonomie wurden nicht so sehr<br />
auf bestimmte Territorien hin konzipiert etwa im Sinne<br />
eines Rechts auf Territorialautonomie, sondern mit<br />
einem gewaltigen normativen Aufwand auf der Ebene<br />
des Rechts der Union und der Gliedstaaten geregelt.<br />
Bezüglich der Forderungen nach Territorialautonomie<br />
sah sich die Indische Union in den 50er Jahren mit der<br />
Notwendigkeit der Reorganisation der Gliedstaaten<br />
nach ethnolinguistischen Kriterien konfrontiert.<br />
Die Verfassung gibt nämlich dem Unionsparlament<br />
das Recht, mit einfacher Mehrheit und normalem<br />
Gesetzgebungs-verfahren neue Gliedstaaten zu<br />
bilden, die Grenzen der bestehenden Gliedstaaten zu<br />
verändern und die Abtrennung von neuen Gliedstaaten<br />
oder die Fusion von Gliedstaaten zu beschließen (Art.<br />
3 und 4 der Unionsverfassung). Dieses Kriterium der<br />
Bildung und Abgrenzung von Gliedstaaten – ein bei<br />
Gründung der Republik noch nicht so maßgebliches<br />
Ordnungsprinzip - hat in der Praxis zu einem höheren<br />
Maß an innerer Homogenität der Gliedstaaten geführt.<br />
Obwohl größere Sprachgemeinschaften entweder<br />
einen eigenen Gliedstaat oder substaatliche autonome<br />
Einheiten erhielten, verblieben auch danach viele<br />
ethnische Gruppen ohne territoriale Selbstverwaltung.<br />
Ethnische Konflikte auf Staats- und Gliedstaatsebene<br />
begleiteten die bisherige Geschichte der indischen<br />
Demokratie. 261<br />
Die indische Verfassung ging im Wesentlichen vom<br />
„Government of India“-Gesetz von 1935 aus, das<br />
den neuen Anforderungen angepasst wurde. Eine<br />
260 Ashutosh Kumar (2005), The Constitutional and Legal Routes,<br />
in Ranabir Samaddar (ed.), The Politics of Autonomy – Indian Experiences,<br />
Kolkata, S. 94<br />
261 Harihar Bhattacharyya (2002), L’India federale, in:<br />
Federalismo&Libertà, n. 9/2002, Edizioni Il Fenicottero, Rom, S.<br />
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