Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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3 Territorialautonomie am Werk<br />
allem aus den Nachbarländern an. Zudem verleiht das<br />
hohe Niveau der öffentlichen Ausgaben des Landes<br />
der Wirtschaft kräftige Impulse. Auch das kulturelle<br />
Leben im Land ist mit dem wirtschaftlichem Wohlstand<br />
und der Autonomie aufgeblüht. Eine Universität<br />
wurde gegründet, ein differenziertes Bildungs- und<br />
Berufsbildungswesen eingerichtet, Forschungsinstitute<br />
und Museen errichtet. Die Südtiroler haben tagtäglich<br />
die Wahl zwischen einer Fülle von Medienangeboten<br />
in allen drei Landessprachen. Deutschsprachige<br />
TV-Programme werden nicht nur vom öffentlichen<br />
Rundfunk und Fernsehen Italiens, der RAI, geboten<br />
sowie von privaten elektronischen Medien, sondern das<br />
ganze Land ist mit Umsetzeranlagen <strong>für</strong> den Empfang<br />
der TV-Programme aus der Schweiz, Österreich und<br />
Deutschland überzogen.<br />
3) Der zweifache Grundcharakter der Autonomie:<br />
Gleichberechtigung und Kulturautonomie<br />
Der zweifache Grundcharakter des Südtiroler<br />
Autonomiekonzeptes lässt sich am besten an seiner<br />
Sprachenregelung erkennen. Dies sind teilweise<br />
individuelle Rechte, die formell den Angehörigen der<br />
nationalen Minderheit zuerkannt werden (Art. 100 des<br />
Aut.St.): „Die deutschsprachigen Bewohner der Provinz<br />
haben das Recht auf den Gebrauch ihrer Sprache“.<br />
Die territoriale Dimension der Autonomie kommt<br />
diesbezüglich in Art. 99 Aut.St. zum Ausdruck, worin die<br />
Gleichberechtigung der deutschen und italienischen<br />
Sprache im öffentlichen Leben festgeschrieben<br />
wird. Die Durchführungs-bestimmungen hierzu<br />
unterscheiden nicht zwischen Angehörigen der<br />
Minderheiten und der Mehrheitsbevölkerung des<br />
Staates und anderen, sodass rechtlich gesehen jeder<br />
die freie Wahl zwischen den offiziellen Landessprachen<br />
Italienisch und Deutsch hat.<br />
Bezüglich der öffentlichen Verwaltung wird die<br />
Kombination der beiden Prinzipien aus der Anwendung<br />
des Proporzprinzips ersichtlich. Dieses war ursprünglich<br />
als eine Art Reparaturmechanismus angelegt, der<br />
historische Diskriminierung und Benachteiligung<br />
ausgleichen sollte, um eine stärkere Vertretung<br />
von Deutschen und Ladinern zu gewährleisten.<br />
Ein höherer Anteil von Deutschsprachigen in der<br />
öffentlichen Verwaltung trug natürlich auch zum Ziel<br />
einer zweisprachigen Verwaltung wesentlich bei.<br />
Das verpflichtende Zweisprachigkeitsexamen <strong>für</strong> alle<br />
Bewerber <strong>für</strong> den öffentlichen Dienst drückt dieses<br />
Grunderfordernis der öffentlichen Verwaltung in einem<br />
mehrsprachigen Kontext aus.<br />
Trotz der Verschränkung im öffentlichen Leben haben<br />
die ethnisch-sprachlichen Unterschiede zu einer<br />
Art Parallelgesellschaft geführt, was auch von der<br />
Siedlungsstruktur gefördert wird. Die ländlichen Gebiete<br />
sind nahezu ausschließlich von deutschsprachigen<br />
Südtirolern und Ladinern besiedelt, während sich<br />
die Italiener in den vier größten Städten (Bozen,<br />
Meran, Brixen und Leifers) konzentrieren. Auch einige<br />
politische Regelungen zielen in Richtung Segregation.<br />
So haben die deutschen, ladinischen und italienische<br />
Sprachgruppe ihre eigenen sozialen Subsysteme und<br />
kulturelle Organisationen: Kindergärten, Schulen,<br />
politische Parteien, Gewerkschaften, öffentliche<br />
Bibliotheken, Sportvereine, Jugendclubs, die Kirche und<br />
die meisten Kulturorganisationen sind monoethnisch.<br />
Es besteht nicht soviel Kontakt zwischen den<br />
Gruppen, sowohl aus Gründen der Siedlungsstruktur<br />
und Arbeitsmarkt-Schwerpunkte, als auch weil die<br />
Kenntnis der jeweils anderen Sprache nicht so gut<br />
entwickelt ist, wie allgemein angenommen. Die<br />
soziale Realität lässt sich demnach eher umschreiben<br />
als „frei gewählte Parallelgesellschaften“, was in<br />
der öffentlichen Diskussion ab und zu auch als<br />
„verschiedene Clubs im selben Haus“ bezeichnet<br />
wird. Diese Segregation wird aber z.T. aufgewogen<br />
und gemildert durch den Konkordanzcharakter in<br />
der politischen Entscheidungsfindung. Partizipation,<br />
Integration und gemeinsame Verantwortung werden<br />
nicht nur durch die Gleichberechtigung der Bürger,<br />
sondern auch durch die Beteiligung an der Macht<br />
aller ethnischen Gruppen erreicht. Südtirol gehört<br />
zu jenen Regionen Italiens, die am effizientesten<br />
verwaltet werden und findet sich bei den öffentlichen<br />
Dienstleistungen und beim Lebensstandard regelmäßig<br />
in den Spitzenpositionen. 135<br />
4) Eine Autonomie <strong>für</strong> alle<br />
Eine Territorialautonomie wird im Normalfall aufgrund<br />
der Rechte von nationalen Minderheiten oder<br />
regionalen Gemeinschaften eingerichtet. Eine solche<br />
Autonomie muss jedoch nicht nur den individuellen und<br />
kollektiven Rechten der Angehörigen der Minderheiten<br />
gerecht werden, sondern auch allen Bewohnern des<br />
autonomen Gebietes den Zugang zu den Vorteilen<br />
der Autonomie verschaffen. Auch <strong>für</strong> die Südtiroler<br />
italienischer Muttersprache (oder altoatesini, wie die<br />
Mehrheit sich bezeichnet wissen will) ist dieses Gebiet<br />
die engere Heimat. Alle drei Sprachgruppen sind an<br />
der Regierung und Verwaltung des Landes beteiligt,<br />
das sie seit 3-4 Generationen gemeinsam bewohnen.<br />
Sie genießen Vorzugsbehandlung gegenüber den nicht<br />
in Südtirol ansässigen italienischen Staatsbürgern,<br />
ihre Sprache ist gleichberechtigt und muss von<br />
135 Eine Fülle von Daten, Fakten und Studien zu den verschiedensten<br />
Aspekten der Südtiroler <strong>Gesellschaft</strong> bietet das Statistikinstitut<br />
Südtirol unter: http://provinz.bz.it/astat<br />
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