Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
Herzstück der Autonomieforderung bleibt die kulturelle<br />
Identität, die sich aus den indigenen Sprachen,<br />
Gemeinschaftsformen, religiösen Wertvorstellungen<br />
und Lebensstilen speist. Laut Stellungnahmen<br />
der EZLN stellt die zapatistische Bewegung die<br />
Souveränität Mexikos nicht in Frage. Autonomie wird<br />
von der EZLN als ein Mittel <strong>für</strong> die Erreichung von zwei<br />
Grundanliegen der indigenen Bevölkerung Mexikos<br />
angesehen: einmal die Gleichberechtigung als<br />
mexikanische Staatsbürger, was vor allem ein Ende<br />
der sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung der<br />
Kleinbauern und Indianer beinhaltet. Zum andern das<br />
Recht auf Verschiedenheit, das die volle Anerkennung<br />
der ethnisch-kulturellen Besonderheit der indigenen<br />
<strong>Völker</strong> von Chiapas erfordert (rund 20% der 4 Millionen<br />
Einwohner gehören 10 verschiedenen <strong>Völker</strong>n an). Die<br />
„Autonome Zapatistische Region in Chiapas“, obwohl<br />
nun de facto autonom, kann aber in diesem Text nicht<br />
als Territorialautonomie in Betracht gezogen werden,<br />
weil der mexikanische Staat sie noch nicht de jure<br />
anerkennt und somit die Kriterien einer genuinen<br />
Autonomie laut Kap. 2.10 nicht erfüllt sind. Doch die<br />
zukünftige Entwicklung könnte dies wahrscheinlich<br />
schnell herbeiführe<br />
4.3.6 Indigene Selbstbestimmung<br />
zwischen Autonomie und Reservaten<br />
Seit 1992, dem Jahr des Gedenkens an die Begegnung<br />
zwischen Europäern und indianischen <strong>Völker</strong>n<br />
Amerikas, sind im Bereich der Rechte der indigenen<br />
<strong>Völker</strong>, insbesondere bezüglich Kultur, Bildung<br />
und der Kontrolle einiger natürlicher Ressourcen,<br />
beträchtliche Fortschritte sowohl in rechtlicher wie<br />
praktisch-politischer Art erreicht worden. Von Mexiko<br />
bis Chile ist das politische Gewicht und die offizielle<br />
Anerkennung der indigenen <strong>Völker</strong> gewachsen, wie<br />
an den Aufständen in Ecuador, an den Märschen der<br />
Zapatisten durch Mexiko und der Wahl eines Indígena<br />
zum Präsidenten Boliviens 2006 ersichtlich geworden<br />
ist. Oft haben in dieser den Indígenas gewogeneren<br />
Atmosphäre des heutigen Lateinamerika indigene<br />
Führungs-persönlichkeiten Autonomie auf ihre Banner<br />
geschrieben, die als optimale Lösung <strong>für</strong> ein besseres<br />
Verhältnis zwischen nationaler mestizischer Mehrheit<br />
und den indigenen Minderheiten hochgehalten wird. 328<br />
Die indigenen <strong>Völker</strong> haben überall die letzten Reste<br />
internen Kolonialismus abzuschütteln versucht und<br />
Selbstbestimmung in Form der Selbstverwaltung<br />
im täglichen Leben durchzusetzen versucht: die<br />
328 Heidi Feldt (2004), S. 54<br />
Erhaltung und Entfaltung ihrer Kulturen, Traditionen<br />
und Sprachen; die Verantwortung <strong>für</strong> Bildung und<br />
innere Konfliktschlichtung, <strong>für</strong> die Führung eigener<br />
Wirtschaftsbetriebe, die Verteidigung ihrer Landrechte,<br />
die lokale Gesundheits- und Sozial<strong>für</strong>sorge, die<br />
Einführung und Einhebung lokaler Steuern.<br />
Am häufigsten Anlass <strong>für</strong> Konflikte gibt heute der<br />
Kampf um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen,<br />
die in selbst verwalteten Gebieten liegen mit<br />
indigener oder gemischter Bevölkerung. Doch die<br />
Rechtsbestimmungen sind oft zu wenig klar, werden<br />
nicht angewandt und können vor den Gerichten<br />
nicht eingeklagt werden. Immer wieder kommt es in<br />
Lateinamerika zu heftigen und blutigen Konflikten<br />
zwischen indigenen Gemeinschaften und staatlichen<br />
Behörden, zwischen privaten Konzernen und Siedlern<br />
auf der einen Seite und den Einheimischen auf der<br />
anderen Seite ((Ecuador, Kolumbien, Peru, Brasilien,<br />
auch in Nicaraguas Atlantikregionen). In einigen<br />
Ländern wie Bolivien und Guatemala sind keine<br />
indigenen Territorien errichtet worden. Stattdessen<br />
ist eine allgemeine Dezentralisierung der staatlichen<br />
Verwaltung eingeleitet worden. Die dezentralisierten<br />
Institutionen wie Provinzen und Gemeinden können<br />
auch indigene Angelegenheiten in autonomer Weise<br />
regeln, doch bleiben sie ein organischer Teil der<br />
Staatsverwaltung ohne echte politische Autonomie. 329<br />
Trotz dieser klar hervorgetretenen Bedürfnisse und<br />
Fähigkeiten ist das Konzept von Autonomie oft in einer<br />
vagen, oft missverständlichen Form ins Spiel gebracht<br />
worden. Die politische Vertretung auf allen Ebenen,<br />
das allgemeine Zivil- und Strafrecht, und die ethnische<br />
Inklusion bei regionalen Bürgerschaftsrechten<br />
bleiben die „Wasserscheiden“ zwischen echter<br />
Territorialautonomie und den Reservaten nach<br />
nordamerikanischem oder auch brasilianischem Muster.<br />
Alle lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme<br />
329 Indigene Autonomie schließt auch die Anwendbarkeit von<br />
indianischem Gewohnheitsrecht ein, nämlich den nicht verschriftlichten,<br />
über lange Zeit tradierten Rechtsnormen. Im öffentlichen<br />
Recht lateinamerikanischer Staaten ist dieses Gewohnheitsrecht,<br />
mit wenigen Ausnahmen des Zivilrechts, nicht anerkannt. Doch <strong>für</strong><br />
indigene <strong>Völker</strong> sind die Normen oft auch <strong>für</strong> die internen Beziehungen<br />
und manchmal auch <strong>für</strong> jene mit nicht indigenen Personen<br />
gültig. In Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Venezuela ist das<br />
Gewohnheitsrecht anerkannt als Rechtsnorm <strong>für</strong> die inneren Rechtsbeziehungen.<br />
Doch ist immer noch strittig bis zu welchem Grad<br />
dieses Recht angewandt werden kann. Kontroversen gibt es vor allem<br />
dann, wenn das Gewohnheitsrecht wesentlich vom staatlichen<br />
Recht abweicht. Einige <strong>Völker</strong> wenden z.B. schwere Strafen auch<br />
<strong>für</strong> leichtere Vergehen an. In diesen Fällen ist die gängige Rechtsauffassung,<br />
dass die Menschenrechte und das staatliche Zivil- und<br />
Strafrecht Vorrang hat. Doch in der Praxis gibt es eine ganz erhebliche<br />
Grauzone (vgl. Heidi Feldt, 2004, S. 54).