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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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212<br />

<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />

Herzstück der Autonomieforderung bleibt die kulturelle<br />

Identität, die sich aus den indigenen Sprachen,<br />

Gemeinschaftsformen, religiösen Wertvorstellungen<br />

und Lebensstilen speist. Laut Stellungnahmen<br />

der EZLN stellt die zapatistische Bewegung die<br />

Souveränität Mexikos nicht in Frage. Autonomie wird<br />

von der EZLN als ein Mittel <strong>für</strong> die Erreichung von zwei<br />

Grundanliegen der indigenen Bevölkerung Mexikos<br />

angesehen: einmal die Gleichberechtigung als<br />

mexikanische Staatsbürger, was vor allem ein Ende<br />

der sozialen und wirtschaftlichen Diskriminierung der<br />

Kleinbauern und Indianer beinhaltet. Zum andern das<br />

Recht auf Verschiedenheit, das die volle Anerkennung<br />

der ethnisch-kulturellen Besonderheit der indigenen<br />

<strong>Völker</strong> von Chiapas erfordert (rund 20% der 4 Millionen<br />

Einwohner gehören 10 verschiedenen <strong>Völker</strong>n an). Die<br />

„Autonome Zapatistische Region in Chiapas“, obwohl<br />

nun de facto autonom, kann aber in diesem Text nicht<br />

als Territorialautonomie in Betracht gezogen werden,<br />

weil der mexikanische Staat sie noch nicht de jure<br />

anerkennt und somit die Kriterien einer genuinen<br />

Autonomie laut Kap. 2.10 nicht erfüllt sind. Doch die<br />

zukünftige Entwicklung könnte dies wahrscheinlich<br />

schnell herbeiführe<br />

4.3.6 Indigene Selbstbestimmung<br />

zwischen Autonomie und Reservaten<br />

Seit 1992, dem Jahr des Gedenkens an die Begegnung<br />

zwischen Europäern und indianischen <strong>Völker</strong>n<br />

Amerikas, sind im Bereich der Rechte der indigenen<br />

<strong>Völker</strong>, insbesondere bezüglich Kultur, Bildung<br />

und der Kontrolle einiger natürlicher Ressourcen,<br />

beträchtliche Fortschritte sowohl in rechtlicher wie<br />

praktisch-politischer Art erreicht worden. Von Mexiko<br />

bis Chile ist das politische Gewicht und die offizielle<br />

Anerkennung der indigenen <strong>Völker</strong> gewachsen, wie<br />

an den Aufständen in Ecuador, an den Märschen der<br />

Zapatisten durch Mexiko und der Wahl eines Indígena<br />

zum Präsidenten Boliviens 2006 ersichtlich geworden<br />

ist. Oft haben in dieser den Indígenas gewogeneren<br />

Atmosphäre des heutigen Lateinamerika indigene<br />

Führungs-persönlichkeiten Autonomie auf ihre Banner<br />

geschrieben, die als optimale Lösung <strong>für</strong> ein besseres<br />

Verhältnis zwischen nationaler mestizischer Mehrheit<br />

und den indigenen Minderheiten hochgehalten wird. 328<br />

Die indigenen <strong>Völker</strong> haben überall die letzten Reste<br />

internen Kolonialismus abzuschütteln versucht und<br />

Selbstbestimmung in Form der Selbstverwaltung<br />

im täglichen Leben durchzusetzen versucht: die<br />

328 Heidi Feldt (2004), S. 54<br />

Erhaltung und Entfaltung ihrer Kulturen, Traditionen<br />

und Sprachen; die Verantwortung <strong>für</strong> Bildung und<br />

innere Konfliktschlichtung, <strong>für</strong> die Führung eigener<br />

Wirtschaftsbetriebe, die Verteidigung ihrer Landrechte,<br />

die lokale Gesundheits- und Sozial<strong>für</strong>sorge, die<br />

Einführung und Einhebung lokaler Steuern.<br />

Am häufigsten Anlass <strong>für</strong> Konflikte gibt heute der<br />

Kampf um die Kontrolle der natürlichen Ressourcen,<br />

die in selbst verwalteten Gebieten liegen mit<br />

indigener oder gemischter Bevölkerung. Doch die<br />

Rechtsbestimmungen sind oft zu wenig klar, werden<br />

nicht angewandt und können vor den Gerichten<br />

nicht eingeklagt werden. Immer wieder kommt es in<br />

Lateinamerika zu heftigen und blutigen Konflikten<br />

zwischen indigenen Gemeinschaften und staatlichen<br />

Behörden, zwischen privaten Konzernen und Siedlern<br />

auf der einen Seite und den Einheimischen auf der<br />

anderen Seite ((Ecuador, Kolumbien, Peru, Brasilien,<br />

auch in Nicaraguas Atlantikregionen). In einigen<br />

Ländern wie Bolivien und Guatemala sind keine<br />

indigenen Territorien errichtet worden. Stattdessen<br />

ist eine allgemeine Dezentralisierung der staatlichen<br />

Verwaltung eingeleitet worden. Die dezentralisierten<br />

Institutionen wie Provinzen und Gemeinden können<br />

auch indigene Angelegenheiten in autonomer Weise<br />

regeln, doch bleiben sie ein organischer Teil der<br />

Staatsverwaltung ohne echte politische Autonomie. 329<br />

Trotz dieser klar hervorgetretenen Bedürfnisse und<br />

Fähigkeiten ist das Konzept von Autonomie oft in einer<br />

vagen, oft missverständlichen Form ins Spiel gebracht<br />

worden. Die politische Vertretung auf allen Ebenen,<br />

das allgemeine Zivil- und Strafrecht, und die ethnische<br />

Inklusion bei regionalen Bürgerschaftsrechten<br />

bleiben die „Wasserscheiden“ zwischen echter<br />

Territorialautonomie und den Reservaten nach<br />

nordamerikanischem oder auch brasilianischem Muster.<br />

Alle lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme<br />

329 Indigene Autonomie schließt auch die Anwendbarkeit von<br />

indianischem Gewohnheitsrecht ein, nämlich den nicht verschriftlichten,<br />

über lange Zeit tradierten Rechtsnormen. Im öffentlichen<br />

Recht lateinamerikanischer Staaten ist dieses Gewohnheitsrecht,<br />

mit wenigen Ausnahmen des Zivilrechts, nicht anerkannt. Doch <strong>für</strong><br />

indigene <strong>Völker</strong> sind die Normen oft auch <strong>für</strong> die internen Beziehungen<br />

und manchmal auch <strong>für</strong> jene mit nicht indigenen Personen<br />

gültig. In Bolivien, Peru, Ecuador, Kolumbien und Venezuela ist das<br />

Gewohnheitsrecht anerkannt als Rechtsnorm <strong>für</strong> die inneren Rechtsbeziehungen.<br />

Doch ist immer noch strittig bis zu welchem Grad<br />

dieses Recht angewandt werden kann. Kontroversen gibt es vor allem<br />

dann, wenn das Gewohnheitsrecht wesentlich vom staatlichen<br />

Recht abweicht. Einige <strong>Völker</strong> wenden z.B. schwere Strafen auch<br />

<strong>für</strong> leichtere Vergehen an. In diesen Fällen ist die gängige Rechtsauffassung,<br />

dass die Menschenrechte und das staatliche Zivil- und<br />

Strafrecht Vorrang hat. Doch in der Praxis gibt es eine ganz erhebliche<br />

Grauzone (vgl. Heidi Feldt, 2004, S. 54).

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