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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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gewaltsamen Aufstände und Sezessionsversuche<br />

führten zu blutiger militärische Repression in vier<br />

Ländern (Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und<br />

Mazedonien) mit über 200.000 Opfern. Zwei Millionen<br />

Menschen wurden zeitweise oder permanent aus<br />

ihrer Heimat vertrieben. Die Verfolgung ethnischer<br />

Minderheiten lieferte in vielen Teilen Osteuropas<br />

eine Herausforderung <strong>für</strong> den Minderheitenschutz<br />

und Mechanismen ihrer Anerkennung. Das<br />

Wiederaufflammen des Nationalismus <strong>bedrohte</strong><br />

manche Minderheiten in ihrer kulturellen Existenz<br />

(Moldawien, Georgien, Aserbaidschan, Mazedonien<br />

und im russischen Kaukasus). Neue Staatsgrenzen<br />

haben in den 28 Staaten Mittel- und Osteuropas nicht<br />

etwa zu nationaler Homogenität geführt, sondern zu<br />

einer Vermehrung von ethnischen Minderheiten. Auf<br />

diesem Hintergrund gewinnt Autonomie bei Staatsund<br />

Minderheitenvertretern in diesem Raum wieder<br />

höchste Aktualität.<br />

Es muss aber auch zur Kenntnis genommen werden,<br />

dass einige Erfahrungen von Territorialautonomie<br />

bitter scheiterten. Zypern und Kosovo stellen Fälle tief<br />

zerrütteter <strong>Gesellschaft</strong>en mit heftiger Diskriminierung<br />

und Verfolgung der jeweils anderen Gruppe dar, die<br />

Albaner im Kosovo und die Türken auf Zypern. 1974<br />

marschierte die Türkei auf Zypern ein, um die türkische<br />

Minderheit zu schützen und die Insel wurde geteilt in<br />

einen ethnisch homogenen griechischen Süden und<br />

den türkisch beherrschten Norden. Eine effektive<br />

Autonomieregelung war auf Zypern gar nicht versucht<br />

worden noch wurde einer Kulturautonomie ein Chance<br />

gegeben.<br />

Im Kosovo wurde im gleichen Jahr 1974 eine radikale<br />

Erneuerung der seit 1948 geltenden Autonomie<br />

verabschiedet, die die fast 90%ige albanische<br />

Mehrheitsbevölkerung nahezu mit den Serben<br />

gleichstellte. 51 Auch die multikulturelle Region<br />

Vojvodina genoss eine weitreichende Autonomie<br />

innerhalb der sozialistischen und föderalen<br />

Staatsstruktur Jugoslawiens. Doch 1989, als Osteuropa<br />

den Übergang zur Demokratie einläutete und sich von<br />

der UdSSR befreite, drehte der serbische Staatschef<br />

Milosević das Rad der Zeit zurück und begann die<br />

beiden Territorialautonomien Serbiens abzuschaffen.<br />

Nicht die Autonomie als solche scheiterte im Kosovo,<br />

sondern die nationalistische Politik der Verleugnung<br />

alter Minderheitenrechte. Daraufhin brach das<br />

gesamte ethnische Gleichgewicht des Tito-Staats<br />

51 Der Fall Kosovo ist auch vom Autor des vorliegenden Werks<br />

aufgearbeitet worden; vgl. Thomas Benedikter (1998), Il dramma<br />

del Kosovo, DATANEWS Rom<br />

2 Das Konzept der politischen Autonomie<br />

blutig in sich zusammen und gipfelte in den Kriegen<br />

in Bosnien-Herzegowina 1992-95 und im Kosovo<br />

1998-99. Das Ergebnis ist bekannt: Montenegro hat<br />

sich 2006 von Serbien abgespalten, Kosovo ist 2008<br />

unabhängig geworden, die Provinz Vojvodina hat 2009<br />

ihre Autonomie zurückerhalten.<br />

Auch in Georgien war es die Abschaffung der unter<br />

der Sowjetunion eingeräumten Autonomie, die den<br />

Aufstand zweier Regionen, Abchasien und Süd-Ossetien,<br />

auslöste. Die blutige Repression der Forderung nach<br />

Selbstbestimmung des kleinen Kaukasusvolks der<br />

Tschetschenen durch Russland seit 1994, die Sezession<br />

kleiner, ethnisch von der Titularnation verschiedenen<br />

Regionen in Transnistrien (Moldawien) und Nagorni<br />

Karabagh (Aserbaidschan) sowie die kurze bewaffnete<br />

Rebellion der Albaner Mazedoniens 2001 legte den<br />

völlig unzureichenden Minderheitenschutz und<br />

Machtbeteiligung der Minderheiten offen. Trotzdem<br />

gibt es in vielen Mitgliedsländern des Europarats<br />

immer noch starke Vorbehalte gegenüber Autonomie in<br />

welcher Form auch immer. Weit verbreitet ist die Angst<br />

vor einer hypothetischen Spirale „Kulturautonomie,<br />

Selbstregierung, Sezession“.<br />

Doch kann heute im Licht der schon länger<br />

funktionierenden und neu eingerichteten<br />

Territorialautonomien besser bewertet werden, ob<br />

dieses Konzept in Europa tatsächlich zu Sezession<br />

geführt hat, oder im Gegenteil legitimen Forderungen<br />

und Interessen nationaler Minderheiten entsprochen<br />

hat, ohne Staatsgrenzen zu verändern. Ein allgemeiner<br />

politischer Ansatz, den Forderungen der nationalen<br />

Minderheiten Genüge zu tun, war im Europa der<br />

Nachkriegszeit zunächst nicht vorstellbar, doch<br />

rückblickend hätten viele Konflikte in Europa mit<br />

einer klaren Verankerung von Minderheitenrechten<br />

und Autonomiekonzepten verhindert werden<br />

können. In diesem Sinne muss das <strong>Völker</strong>recht,<br />

das Minderheitenrechte bei weitem noch nicht<br />

ausreichend kodifiziert hat, sich der Herausforderung<br />

stellen, diese „innere Form der Selbstbestimmung“ zu<br />

regeln. Regionalautonomie schafft auf der Grundlage<br />

von Rechtsstaatlichkeit und demokratischer<br />

Repräsentation einen rechtlichen und politischen<br />

Rahmen <strong>für</strong> innere Selbstbestimmung, begrenzt auf ein<br />

Territorium und bestimmte Politikfelder. Immer mehr<br />

werden sich die Mehrheiten der Staaten bewusst, dass<br />

Regional-autonomie als Kompromisslösung zwischen<br />

Minderheiten und Mehrheit auch in ihrem Interesse<br />

liegt, wenn Frieden und Grundrechte gewahrt werden<br />

sollen.<br />

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