Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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4.3 Amerikas Reservate<br />
<strong>für</strong> indigene <strong>Völker</strong><br />
Reservate (manchmal auch “Reservationen” genannt)<br />
sind Territorien mit einem besonderen Rechtscharakter,<br />
die zunächst von europäischen Siedlern in Amerika zur<br />
Isolierung und Kontrolle indianischer <strong>Völker</strong> errichtet<br />
worden sind. 310 Später wurde diese Form territorialer<br />
Selbstverwaltung auch in Afrika und in Teilen Asiens zur<br />
Anwendung gebracht. Reservate können mit autonomen<br />
Regionen gemäß der in Kapitel 2.10 dargelegten<br />
Kriterien verglichen werden, doch unter bestimmten<br />
Aspekten unterscheiden sie sich klar. Insbesondere in<br />
Amerika lag der Hauptzweck der Reservate darin, den<br />
historisch begründeten Forderungen der indigenen<br />
<strong>Völker</strong> nach Selbstbestimmung durch die Einrichtung<br />
von Arealen zu entsprechen, wo sie weitgehend sich<br />
selbst überlassen und der nationalen Gesetzgebung<br />
zum Teil entzogen waren.<br />
In Kanada und den USA leben die meisten indianischen<br />
<strong>Völker</strong> in solchen Reservaten mit besonderer<br />
Rechtsstellung. In Lateinamerika werden solche<br />
Territorien „resguardos“ oder auch „reservaciones“<br />
genannt. In den USA sind die Indianerreservate dem<br />
„Bureau of Indian Affairs“ (BIA) unterstellt, das zum<br />
US-Innenministerium gehört. Die meisten der rund<br />
300 Indianerreservate der USA sind relativ klein, doch<br />
immerhin neun übertreffen an Fläche den kleinsten US-<br />
Bundesstaat Delaware (5.375 km 2 ). Bei weitem nicht<br />
alle 309 von der US-Regierung anerkannten Stämme<br />
bzw. <strong>Völker</strong> haben ein eigenes Reservat. Aufgrund<br />
von Landverkäufen und Landneuverteilungen am<br />
Ende des 19. Jahrhunderts sind manche Reservate<br />
räumlich stark aufgesplittert. Heute lebt eine<br />
knappe Mehrheit der Indianer der USA außerhalb<br />
der Reservate, vor allem in den Städten. Infolge der<br />
früheren Umsiedlungsaktionen der US-Regierungen<br />
liegt heute 93% des Indianerlands (Reservate) im<br />
Mittleren Westen und nur 3% östlich des Mississippi.<br />
Diese Reservate haben ein unterschiedliches Maß<br />
an Selbstverwaltungskompetenzen. Manche sind<br />
von der US-Bundesregierung eingerichtet worden,<br />
andere von einzelnen Gliedstaaten auf Territorien im<br />
Staatseigentum. Die kanadischen Regelungen der<br />
Indianerreservate ähneln jenen der USA, weshalb sie<br />
hier nur kurz zur Sprache kommen.<br />
4 Besondere Formen von Autonomie<br />
4.3.1 Reservate in Kanada<br />
Ein Indianerreservat wird vom kanadischen<br />
Indianergesetz (Indian Act) definiert als ein “Areal<br />
im Eigentum Ihrer Majestät, das von Ihrer Majestät<br />
einem Stamm zur Nutzung überlassen worden ist”. 311<br />
Das kanadische Indianergesetz stellt klar, dass auch<br />
Territorien, die Indianerstämmen (bands oder tribes)<br />
zur Verfügung gestellt worden sind, aber nicht<br />
Eigentum der Krone sind, den Bestimmungen des<br />
Indianergesetzes unterliegen.<br />
Doch die Entstehungsgeschichte dieser Reservate ist<br />
sehr unterschiedlich. Der US-amerikanische Ausdruck<br />
„reservation“ wird zwar gelegentlich angeführt, doch<br />
lautet in Kanada die öffentliche Bezeichnung „reserve“<br />
(Reservat). Auch die Bezeichnung „First Nations<br />
Reserve“ wird oft anstelle des Begriffs Indianerreservat<br />
verwendet.<br />
Das Indianergesetz gibt dem Minister <strong>für</strong><br />
Indianerangelegenheiten das Recht, „festzulegen, ob<br />
die Zweckbestimmungen eines Reservats wirklich den<br />
Indianern zum Vorteil gereichen“. Rechtstitel bezüglich<br />
Grund und Boden im Reservat können nur dem<br />
Stamm, nicht jedoch seinen Mitgliedern individuell<br />
überschrieben werden. Das Reservatsland kann nicht<br />
von Rechts wegen konfisziert werden. Das persönliche<br />
Eigentum eines Stammes oder eines Stammesmitglieds<br />
kann nicht mit Bindungen oder einer Hypothek belastet<br />
oder enteignet werden (Art. 89, Abs.1 Indianergesetz).<br />
Dies hat dazu geführt, dass manche Stämme und<br />
deren Mitglieder nur unter größten Schwierigkeiten zu<br />
Krediten und Bankfinanzierungen kommen.<br />
Die kanadischen Provinzen und Gemeinden dürfen<br />
Reservatsland nur dann enteignen, wenn dies durch ein<br />
Provinz- oder Bundesgesetz ausdrücklich vorgesehen<br />
ist.<br />
Insgesamt gibt es in Kanada 600 solcher Areale,<br />
wovon die meisten recht klein sind. Nur wenige dieser<br />
Reservate verfügen über natürliche Ressourcen,<br />
die ihren Bewohnern ein ausreichendes Einkommen<br />
und Beschäftigung verschaffen. Die Einnahmen aus<br />
solchen Ressourcen werden vom Indianerministerium<br />
treuhänderisch verwaltet. Die meisten Reservate<br />
haben eine Selbstverwaltung gemäß kanadischem<br />
Indianergesetz eingerichtet.<br />
310 Yash Ghai, (ed), International Conflict Resolution After the<br />
Cold War, The National Academic Press, 2000, S. 485<br />
311 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Indian_reservation<br />
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