Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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3 Territorialautonomie am Werk<br />
Landesebene bilden die Deutschen und Ladiner eine<br />
deutliche Mehrheit, während sich die Italiener, die<br />
zum Großteil in Südtirol geboren sind, zunehmend<br />
als „Minderheit“ fühlen. Deshalb ist ein komplexes<br />
und ausdifferenziertes Rechtssystem entstanden, das<br />
Ämterrotation, paritätische Gremienbesetzung und<br />
proportionale Vertretung miteinander verknüpft. Dies<br />
kann als „konkordanzdemokratische Regierungsform“<br />
oder als „durch Rechtsnorm sanktionierte Toleranz“ 132<br />
bezeichnet werden. Das Hauptmerkmal dieses<br />
Systems ist die Machtteilung zwischen den ethnischen<br />
Gruppen, die auf vier Hauptelementen beruht:<br />
auf jeden Fall nur zu Fragen von grundlegender<br />
Bedeutung. Das Prinzip der Gleichheit aller Ansässigen,<br />
unabhängig von ihrer Sprachgruppenzugehörigkeit,<br />
und das Recht der Landtagsabgeordneten, eine nach<br />
Sprachgruppen getrennte Abstimmung zu verlangen,<br />
wenn be<strong>für</strong>chtet wird, dass ein Landesgesetz das<br />
Prinzip der Gleichberechtigung aller Sprachgruppen<br />
verletzt. Das letzte Mittel ist die Anfechtung einer<br />
Rechtsnorm durch die Vertreter einer Sprachgruppe<br />
vor dem Verfassungs-gerichtshof. Doch sind dies<br />
Notbremsen, die bisher noch nie gezogen worden<br />
sind.<br />
1. Die Beteiligung von Vertretern aller ethnischen<br />
Gruppen in der Regierung erfolgt durch die<br />
gemeinsame Bildung einer Landesregierung in<br />
Form einer „ethnischen Koalitionsregierung“. Die<br />
Zusammensetzung der Südtiroler Landesregierung<br />
muss dem zahlenmäßigen Verhältnis der Sprachgruppen<br />
im Landtag entsprechen. Der Präsident des Landtags<br />
rotiert zwischen Landtagsabgeordneten verschiedener<br />
Sprachgruppen.<br />
2. Ein hoher Grad an Autonomie <strong>für</strong> die Gruppen,<br />
insbesondere in der Kultur- und Bildungspolitik.<br />
Das Prinzip der Kulturautonomie (Art.2, Aut.St) sieht<br />
vor, dass die Gleichheit der Rechte von Bürgern aller<br />
Sprachgruppen anerkannt wird und „ihre ethnischen<br />
und kulturellen Merkmale“ geschützt sind. Mit anderen<br />
Worten: die Unterschiede zwischen den drei Kulturen<br />
und der Wert der Vielfalt werden anerkannt. Die<br />
Kulturautonomie und die Maßnahmen zum Schutz und<br />
zur Förderung der kulturellen Identität einschließlich<br />
des getrennten Schulsystems sind typischer Ausdruck<br />
des Schutzes kollektiver Rechte. Alle Entscheidungen<br />
in diesen Bereichen erfordern bloß den Konsens<br />
innerhalb der betroffenen Gruppe.<br />
3. Das Proporzprinzip als Grundregel der politischen<br />
Vertretung, der Personal-aufnahme in den öffentlichen<br />
Dienst und der Verteilung bestimmter öffentlicher<br />
Ressourcen.<br />
Wie erwähnt sieht das Autonomiestatut eine Vergabe<br />
öffentlicher Stellen nach ethnischem Proporz zwischen<br />
den drei Sprachgruppen als auch der Mittel <strong>für</strong> die<br />
Kultur, <strong>für</strong> den sozialen Wohnbau und einige andere<br />
Bereiche der Sozialpolitik vor.<br />
4. Das Minderheitenveto als „letzte Waffe“ zur<br />
Verteidigung vitaler Interessen einer Gruppe, doch<br />
132 Jens Woelk, Südtirol: ein Lehrbeispiel <strong>für</strong> Konfliktlösung? In:<br />
Die Friedens-Warte 1/2001, S.101-124; derselbe, Reconciliation impossible<br />
or (only) undesirable? South Tyrolean experiences, http://<br />
www.peaceproject.at/Ppdocs/South_Tyrol_study_Woelk.pdf<br />
3.1.4 Verfahren zur Entwicklung der<br />
Autonomie<br />
Ein besonderes Kennzeichen der Geschichte der<br />
Südtirol-Autonomie, das auch <strong>für</strong> andere vergleichbare<br />
Problemlagen von besonderem Nutzen sein könnte,<br />
ist die Schaffung von Verhandlungsebenen zur<br />
einvernehmlichen Lösung aktueller Konflikte zwischen<br />
den nationalen Minderheiten und dem Zentralstaat. 133<br />
Obwohl der ursprünglich vorgesehene Zeitrahmen<br />
<strong>für</strong> die konkrete Anwendung des Autonomiestatutes<br />
(der sog. Operationskalender) um das zehnfache<br />
überschritten wurde, hatte der Prozess zur<br />
Ausarbeitung der Durchführungsbestimmungen in den<br />
zuständigen Sonderkommissionen auch den Effekt von<br />
vertrauensbildenden Maßnahmen. Als es zu neuen<br />
Spannungen zwischen Rom und Bozen kam, kam dieser<br />
Prozess zeitweise zum Stillstand, mitbedingt durch<br />
die Beziehungen zwischen den Mehrheitsparteien<br />
auf Landes- und Staatsebene. Doch später wurde der<br />
Prozess wieder aufgenommen. In diesen gemischten<br />
Kommissionen <strong>für</strong> die Aushandlung der Umsetzung<br />
der Autonomie sind die Vertreter des Staats und der<br />
autonomen Provinz in gleicher Zahl vertreten.<br />
Die von diesen Kommissionen erarbeiteten<br />
Durchführungsbestimmungen müssen nicht vom<br />
Parlament erörtert und beschlossen werden, sondern<br />
werden von der Regierung als nationales Recht in<br />
Kraft gesetzt. Deshalb konnten die Beschlüsse der<br />
gemischten Kommission außerhalb des politischen<br />
Tagesgeschäfts gehalten werden, während hier<br />
Experten beider Seiten am Werk waren. Aufgrund<br />
des besonderen Verfahrens und des Charakters als<br />
Verhandlungsergebnisse können die Bestimmungen<br />
nicht einseitig vom Staat abgeändert werden. In<br />
Verbindung mit der Möglichkeit, Streitfragen vor das<br />
133 Jens Woelk, Reconciliation impossible or (only) undesirable?<br />
South Tyrolean experiences, 2002, at: http://peaceproject.at/Ppdocs/<br />
South_Tirol_Woelk.pdf<br />
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