Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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2.3 Die Geschichte der<br />
politischen Autonomie 46<br />
Wenn man von einer Definition von politischer<br />
Territorialautonomie gemäß der im vorigen Kapitel 2.2<br />
genannten Kriterien (Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,<br />
Mindestmaß an legislativen und exekutiven Befugnissen,<br />
de jure und de facto-Autonomie, kein souveräner oder<br />
assoziierter Staat, kein abhängiges Gebiet) ausgeht,<br />
beginnt die Geschichte der politischen Autonomie<br />
nicht vor dem 20. Jahrhundert. In der Geschichte<br />
Europas gab es allerdings seit dem 16. Jahrhundert<br />
Formen von Autonomie <strong>für</strong> religiöse Gemeinschaften<br />
wie z.B. <strong>für</strong> die Protestanten in katholischen Regionen,<br />
die Juden in verschiedenen Teilen von Städten und<br />
Staaten, die Muslime in christlichen Gebieten, und <strong>für</strong><br />
Katholiken, Orthodoxe und Juden im Osmanenreich.<br />
Dieses System, „Millet“ genannt, blieb bis zum<br />
Ende des Osmanischen Reichs 1918 aufrecht. Es<br />
verlieh Juden und Christen das Recht auf eine eigene<br />
Familienrechtsordnung, Traditionen, Gerichte und<br />
Schulen und sogar eine eigene Besteuerung neben<br />
dem osmanischen Steuersystem. Die Abschaffung<br />
des Millet-Systems und die wachsende Unterdrückung<br />
von ethnischen und religiösen Minderheiten trug<br />
wesentlich zum Widerstand der Balkan-<strong>Völker</strong> gegen<br />
die neuen Herrscher bei.<br />
In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde<br />
in verschiedenen Fällen Territorial-autonomie<br />
eingerichtet, um politische Konflikte einzudämmen, die<br />
aus den Gebietsveränderungen nach dem 1. Weltkrieg<br />
entstanden waren. Einige nationale Minderheiten in<br />
Mittel- und Osteuropa erhielten Territorialautonomie als<br />
Ersatz <strong>für</strong> Selbstbestimmung von den Siegermächten<br />
des Weltkriegs wie z.B. die freie Stadt Danzig, das<br />
Memel-Klaipeda-Gebiet und das Saarland von 1920<br />
bis 1935. 47 Doch im Großen und Ganzen waren die<br />
getroffenen Lösungen unzureichend und ihre Mängel<br />
lieferten aggressiven, nationalistischen Nachbarn<br />
oder Schutzmächten den Vorwand, irredentistische<br />
Bedrohung aufzubauen und Annexionsbestrebungen<br />
vorzubereiten.<br />
46 Vgl. zu diesem Aspekt Markku Suksi, Autonomy – Applications<br />
and implications, The Hague 1998; Zelim Skurbaty (ed.), Beyond<br />
a one-dimensional state, Leiden 2005; Yash Ghai (ed.), Autonomy<br />
and ethnicity: negotiating competing claims in multiethnic states,<br />
Hong Kong 2000; Ruth Lapidoth, Autonomy – Flexible solutions for<br />
ethnic conflicts, Washington, 1997, Teil III-7 und III-8; Hurst Hannum,<br />
Autonomy, Sovereignty and Self-determination-The Accommodation<br />
of Conflicting Rights, Philadelphia 1996<br />
47 Ruth Lapidoth, Autonomy – Flexible solutions for ethnic conflicts,<br />
Washington, 1997, S.77-84; Hurst Hannum, Autonomy, Sovereignty<br />
and Self-determination, Philadelphia 1996, S.370-406<br />
2 Das Konzept der politischen Autonomie<br />
In der zweiten Nachkriegszeit gab es ungünstige<br />
Rahmenbedingungen <strong>für</strong> eine breite politische<br />
Diskussion über Autonomie. Obwohl das Recht aller<br />
<strong>Völker</strong> auf Selbstbestimmung als grundlegendes<br />
Prinzip des <strong>Völker</strong>rechts am 10.12.1948 in der Charta<br />
der Vereinten Nationen verankert worden war und<br />
später in den Internationalen Pakten <strong>für</strong> bürgerliche<br />
und politische Rechte 1966 verbrieft wurde, wurde<br />
seine Anwendung auf <strong>Völker</strong> beschränkt, die von den<br />
klassischen Kolonialmächten beherrscht waren. Neue<br />
Formen von Kolonialismus, die von eben unabhängig<br />
gewordenen Entwicklungsländern ausgeübt wurden,<br />
übersah man.<br />
Auf der anderen Seite waren nationale Minderheiten,<br />
Volksgruppen und indigene <strong>Völker</strong> innerhalb souveräner<br />
Staaten nicht berechtigt, das Selbstbestimmungsrecht<br />
zu fordern. Autonomie als kollektives Recht wurde<br />
in Europa eher als Bedrohung existierender Staaten<br />
wahrgenommen, da sie auf dem Hintergrund eines<br />
Nationalstaats entstanden waren. Nur wenige<br />
multinationale Staaten wie die Schweiz und Belgien<br />
lieferten Anschauungsbeispiele <strong>für</strong> Alternativen zum<br />
Nationalstaat mit einer hegemonialen Titularnation.<br />
Da es mehr als 100 nationale Minderheiten in Europa<br />
gibt, wurde ein Kollektivrecht auf Autonomie nicht als<br />
Ersatz <strong>für</strong> Staatlichkeit, sondern geradezu als Einladung<br />
betrachtet, die Nationalstaaten aufzubrechen. Die<br />
Staatseliten betrachteten dieses Konzept demnach<br />
mit tiefem Misstrauen. 48<br />
Dennoch fanden in der Nachkriegszeit einige Staaten<br />
in West- und Nordeuropa den Weg zu einer Politik der<br />
Anerkennung und dem Schutz nationaler Minderheiten<br />
durch Regeln im Verfassungs- und Staatsrecht. Ein<br />
wachsender Trend zu allgemeiner Dezentralisierung<br />
und Regionalisierung (Italien, Frankreich, Spanien)<br />
und Devolution (Großbritannien) förderte diesen<br />
Prozess zu mehr Territorialautonomie. Neben der<br />
ältesten Territorialautonomie Europas, den Åland-<br />
Inseln in Finnland, wurden Sonderautonomien in<br />
Italien und Dänemark eingerichtet. Belgien lieferte<br />
ein Beispiel da<strong>für</strong>, wie ein zuvor zentralisierter Staat<br />
stufenweise in einen Bundesstaat umgewandelt<br />
werden kann. Dadurch wurden den drei historischen<br />
Sprachgemeinschaften Belgiens, den Flamen<br />
(Holländisch), den Wallonen (Französisch) und der<br />
deutschen Minderheit an der Ostgrenze zu Deutschland<br />
Territorial- und Kulturautonomie gewährt. 49<br />
48 Eine zahlenmäßige Übersicht über die ethnische Vielfalt in Europa<br />
findet sich in: Christoph Pan/Beate S. Pfeil, National Minorities<br />
in Europe – Handbook, Braumüller, Wien 2003, Teil II, S. 39-181<br />
49 Bruno de Witte, Regional autonomy, cultural diversity and Eu-<br />
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