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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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4 Besondere Formen von Autonomie<br />

lokale Gesetzgebung ausgehöhlt und der autonome<br />

Spielraum eng begrenzt. Obwohl grundsätzlich<br />

Autonomie gewährt wird, ist das GesRNA in Wortlaut<br />

und in der Anwendung widersprüchlich geblieben,<br />

weil die Einheit des Staates letzten Endes der<br />

Autonomie immer übergeordnet bleibt.“ 338<br />

Ein Beispiel <strong>für</strong> diese Aufweichung und Relativierung<br />

der Autonomie liefert Art. 7 des GesRNA, worin<br />

festgelegt wird, dass „die Organe der Selbstverwaltung<br />

der ethnischen autonomen Gebiete die Interessen des<br />

Gesamtstaates über jedes andere Interesse stellen<br />

muss und positive Anstrengungen vollbringen muss,<br />

um die von übergeordneten Staatsorganen gesetzten<br />

Ziele zu erreichen.“ 339<br />

Es ist heute unmöglich, den Grad der Zustimmung<br />

der ethnischen Minderheiten Chinas zu den heutigen<br />

Autonomieregelungen zu ermitteln. Doch auch<br />

unabhängige Forscher bestätigen, dass Chinas<br />

Minderheitenpolitik die konkrete Lage der Minderheiten<br />

in vielen Gebieten verbessert hat, verglichen mit<br />

der Vergangenheit im Kaiserreich. 340 Andererseits<br />

gehören die angestammten Gebiete der Minderheiten<br />

zu den ärmsten und wirtschaftlich rückständigsten<br />

ganz Chinas. Das Wirtschaftsgefälle zwischen den<br />

Minderheitenregionen und anderen Provinzen,<br />

insbesondere den boomenden Küstenregionen, lässt<br />

manche Minderheit aufbegehren. Die chinesische<br />

Regierung wandte sich mit wirtschafts- und<br />

sozialpolitischen Anstrengungen erst jüngst verstärkt<br />

auch den zentralen und westlichen Regionen zu, wo<br />

die meisten Minderheitenvölker leben. Doch in der<br />

Zwischenzeit hat Chinas Wirtschaftswachstum neue<br />

Probleme aufgeworfen, wie die intensivere Nutzung der<br />

Böden, Gewässer, Wälder und der großflächige Abbau<br />

von Bodenschätzen in den Minderheitenregionen.<br />

In diesem Kontext muss ein grundlegender Aspekt<br />

des Staatsaufbaus Chinas immer präsent bleiben: die<br />

Parteihierarchie bildet eine parallele Machtstruktur,<br />

die vor staatlichen Institutionen Vorrang genießt und<br />

ihren politischen Spielraum stark begrenzt. Auch<br />

wenn Territorialautonomie gewährleistet ist, sind<br />

von der Partei unabhängige Entscheidungsverfahren<br />

nie garantiert. Auch wenn grundsätzlich bestimmte<br />

Anforderungen formaler Autonomie erfüllt sind, sind<br />

es im heutigen politisch-rechtlichen Rahmen Chinas<br />

zwei wichtige Kriterien nicht: politische Freiheit in<br />

338 Lobsang Sangay, China’s National Autonomy Law and Tibet:<br />

a Paradox between Autonomy and Unity, Oktober 2006, unter:<br />

http://www.harvardsaa.org/saj/<br />

339 Lobsang Sangay(2006)<br />

340 Shuping Wang (2004), S.166<br />

der parlamentarischen Entscheidungsfindung und die<br />

volle Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit. 341<br />

Auf der anderen Seite sind Territorial-autonomien auch<br />

seitens der Mehrheits-bevölkerung Chinas kritisiert<br />

worden. Verschiedentlich ist die Notwendigkeit einer<br />

autonomen Einheit in Gebieten in Frage gestellt<br />

worden, wo eine nationale Minderheit auch lokal bzw.<br />

regional in der Minderheit ist. Dies ist heute in drei der<br />

fünf autonomen Regionen der Fall, nämlich in Guangxi,<br />

Ningxia und in der Inneren Mongolei. Bemängelt wird<br />

auch, dass autonome Gebiete affirmative Maßnahmen<br />

zur Minderheitenförderung treffen, die von der<br />

Mehrheit als Diskriminierung empfunden werden, wie<br />

z.B. eine nachrangige Zulassung zu Ausbildungs- und<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst<br />

<strong>für</strong> Han-Chinesen.<br />

Andere betrachten die Existenz von autonomen<br />

Gebieten überhaupt als Bedrohung der nationalen<br />

Einheit Chinas. Tatsächlich ist Chinas Autonomiepolitik<br />

heute mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert,<br />

die mit der beschleunigten Entwicklung der Wirtschaft<br />

zusammen-hängen, an der die autonomen Regionen<br />

in geringerem Maß teilhaben. Chinas Küstengebiete<br />

waren zunächst privilegiert worden, weshalb sich die<br />

Schere im Entwicklungsstand zwischen den „Boomregionen“<br />

und den westlichen Provinzen und autonomen<br />

Gebieten erheblich öffnete. Zudem haben jüngste<br />

Reformen des chinesischen Wirtschaftsrechts einige<br />

finanzielle Sonderrechte der autonomen Regionen<br />

beseitigt.<br />

341 Eine kritische Analyse der chinesischen Staatsstruktur findet<br />

bei Erik Friberg, ‘Masters of their homelands’: revisiting the<br />

regional ethnic autonomy system in China in light of local institutional<br />

developments, in Marc Weller/Stephan Wolff, Autonomy, selfgovernance<br />

and conflict resolution, Routledge, 2005, S. 234-261<br />

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