Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
2.4 Rechtsgrundlagen <strong>für</strong><br />
Territorialautonomie<br />
2.4.1 Allgemeines<br />
Gemäß <strong>Völker</strong>recht und dem Verfassungsrecht<br />
jener Staaten, die die wichtigsten internationalen<br />
Menschenrechtspakte übernommen haben, ist die<br />
Diskriminierung einer Person aufgrund ihrer religiösen,<br />
ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Zugehörigkeit<br />
oder aufgrund des Geschlechts verboten. Meistens<br />
wird eine Person als Mitglied einer bestimmten<br />
Gruppe diskriminiert: in Europa weniger aufgrund der<br />
Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft oder<br />
Kaste, wie etwa in Asien, als wegen seiner ethnischen<br />
und sprachlichen Identität. Wenn ein Angehöriger einer<br />
nationalen Minderheit sich diskriminiert fühlt, kann er auf<br />
dieser Grundlage seine Rechte geltend machen. Doch<br />
die bloße Gewährleistung von Nicht-Diskriminierung<br />
und Gleichheit auf der Ebene der individuellen<br />
Menschenrechte reicht nicht aus, weil ethnische<br />
Minderheiten im strukturellen Nachteil gegenüber den<br />
Angehörigen der Titularnation eines Staates bzw. den<br />
dominanten Gruppen dieses Staats sind. Ethnische<br />
Minderheiten fordern tatsächliche Chancengleichheit<br />
ein, weshalb der Staat über die Individualrechte<br />
hinaus aktive Schutz- und Förderungsmaßnahmen<br />
ergreifen muss, um Minderheitenkulturen zu erhalten<br />
und Gruppenrechte zu schützen. Inzwischen hat sich<br />
die Erkenntnis weithin gefestigt, dass ein bloß auf<br />
individuellem Bürger- und Menschenrechtsschutz<br />
beruhender Minderheitenschutz nicht ausreicht.<br />
Nationale Minderheiten können ihre Rechte nur in<br />
Anspruch nehmen, wenn die öffentliche Hand mit<br />
Einrichtungen und Dienstleistungen aktiv <strong>für</strong> sie<br />
eintritt. Da<strong>für</strong> benötigt eine ethnische Gemeinschaft<br />
einen speziellen rechtlich-politischen Rahmen, in<br />
welchem Gleichberechtigung mit den Mitgliedern<br />
der nationalen Mehrheit in jedem Lebensbereich<br />
hergestellt werden soll. In diesem Rechtsrahmen, der<br />
geographisch auf ein vom Großteil der zu schützenden<br />
Minderheit bewohntes Gebiet begrenzt wird, kann die<br />
Minderheit selbst die Verantwortung <strong>für</strong> ihr kulturelles<br />
Überleben und ihre kulturelle Entwicklung übernehmen,<br />
neben der Verantwortung <strong>für</strong> die gesamte regionale<br />
Gemeinschaft. Darüber hinaus sind hinsichtlich der<br />
politischen Beteiligung einige spezielle Vorkehrungen<br />
nötig, um ethnischen Minderheiten auf allen Ebenen<br />
des Staates gleiche Rechte zu verschaffen.<br />
Im <strong>Völker</strong>recht bedeutet ein kollektives Recht, dass<br />
eine Gruppe Träger dieses Rechtes ist. Somit wird eine<br />
Minderheit als solche mit Rechten ausgestattet, nicht<br />
bloß ihre individuellen Mitglieder. Gruppen-rechte sind<br />
jedoch mehr als die einfache Summe der individuellen<br />
Rechte. Außer dem grundlegenden Zweck von<br />
Minderheitenrechten, nämlich den Mitgliedern der<br />
Minderheit gleich wie den Mitgliedern der ethnischen<br />
Mehrheit eines Gemeinwesens alle Menschen- und<br />
Bürgerrechte zu sichern, gibt es drei weitere Anliegen<br />
des Minderheitenschutzes: die Konfliktprävention, die<br />
Erhaltung der kulturellen Identität einer Gruppe und<br />
der kulturelle Austausch und Prozess gegenseitiger<br />
Bereicherung zwischen Gruppen, die ein Gebiet<br />
gemeinschaftlich bewohnen.<br />
Der Minderheitenschutz im modernen Staats- und<br />
<strong>Völker</strong>recht ist ein Beispiel <strong>für</strong> die Verknüpfung von<br />
individuellen und kollektiven Rechten. Ein Mitglied<br />
einer nationalen Minderheit kann seine Identität nur<br />
erhalten, wenn seine Gruppe die Möglichkeit hat,<br />
sich frei zu entfalten. Kollektive Rechte ergänzen die<br />
individuellen Menschen- und Bürgerrechte und stellen<br />
die Voraussetzungen <strong>für</strong> ihre konkrete Einlösung dar.<br />
Das Konzept der Gruppenrechte ist jedoch immer noch<br />
umstritten. Ein Beweis da<strong>für</strong> ist die „VN-Deklaration<br />
<strong>für</strong> die Rechte der Personen, die ethnischen,<br />
religiösen, sprachlichen Minderheiten angehören“<br />
vom 18. Dezember 1992, Nr.47/135, 56 die in nicht<br />
verbindlicher Form den individuellen Angehörigen<br />
von Minderheiten Rechte zuerkennt, nicht jedoch<br />
Gruppen. Obwohl Gruppenrechte immer noch nicht<br />
explizit in einem internationalen Übereinkommen<br />
zum Minderheitenschutz verankert sind, beginnt sich<br />
in der Staatengemeinschaft langsam die Erkenntnis<br />
durchzusetzen, dass kollektive Minderheitenrechte<br />
anerkannt gehören.<br />
Heute leitet sich der Großteil der in Staaten<br />
oder in subnationalen Einheiten angewandten<br />
Minderheitenrechte aus dem Verfassungsrecht und<br />
den staatlichen oder regionalen Rechtsnormen ab,<br />
die mit internationalen Konventionen und bilateralen<br />
Verträgen übereinzustimmen haben. Der komplexe<br />
Corpus an Minderheitenrechten 57 war entscheidend<br />
56 Dieser Text findet sich in: http://www.unhchr.ch/html/menu3/<br />
b/d_minor.htm<br />
57 Bezüglich Europa können in dieser Hinsicht zahlreiche Websites<br />
zu Rate gezogen werden. Zu den nützlichsten gehören: das<br />
Informationssystem über Minderheitenrechte MIRIS der Europäischen<br />
Akademie Bozen: http://www.eurac.edu/miris; das Europäische<br />
Büro <strong>für</strong> Sprachminderheiten in Brüssel: http://www.eblul.<br />
org; der Europarat: http://www.coe.int/T/E/human_rights/minorities;<br />
das MERCATOR Minderheitensprachenzentrum in Barcelona:<br />
http://www.ciemen.org/mercator; das genannte „European<br />
Centre for Minority Rights“ in Flensburg: http://www.ecmi.org