Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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3 Territorialautonomie am Werk<br />
Partei, der Südtiroler Volkspartei (SVP) gelungen,<br />
regelmäßig das Vertrauen von rund 80% der Wähler<br />
der beiden nationalen Minderheiten zu gewinnen.<br />
Dies hat zu einer <strong>für</strong> den internen Pluralismus und<br />
Demokratie wenig gesunden Situation geführt, war<br />
aber in den Beziehungen zu den äußeren politischen<br />
Akteuren von Vorteil. Rom und Wien konnten immer<br />
mit einem einzigen politischen Partner verhandeln,<br />
der SVP, als ob eine nationale Minderheit mit einer<br />
einzigen Stimme sprechen würde.<br />
5) Eine komplexe konkordanzdemokratische<br />
Machtteilung<br />
Der Hauptzweck der Südtiroler Autonomie ist<br />
sicher der Schutz und die Gleichberechtigung<br />
der nationalen Minderheiten der deutschen und<br />
ladinischen Volksgruppe. Diese stellen seit 2001<br />
rund 74% der Gesamtbevölkerung und könnten unter<br />
den Bedingungen einer Mehrheitsdemokratie das<br />
Land regieren, ohne die italienische Volksgruppe zu<br />
beteiligen. Dies geschieht nicht, weil dies zum einen<br />
neue ethnische Spannungen provozieren würde, und<br />
zum andern vom Autonomiestatut ausgeschlossen wird.<br />
Jede Volksgruppe muss nicht nur im Landesparlament<br />
und in der Landesregierung vertreten sein, sondern<br />
auch in den meisten öffentlichen Kommissionen und<br />
halb-öffentlichen Gremien. Auf allen Ebenen der<br />
Entscheidungsfindung ist es zu einem allgemeinen<br />
Prinzip geworden, alle Volksgruppen einzubeziehen.<br />
Dies gilt auch <strong>für</strong> die Ebene der Gemeinden. Auf<br />
nationaler Ebene muss der Landeshaupt-mann<br />
(Präsident der autonomen Provinz) zu jeder Sitzung<br />
des italienischen Ministerrates geladen werden, bei<br />
welcher eine Südtirol betreffende Frage zur Diskussion<br />
steht.<br />
7) Zweisprachigkeit im gesamten öffentlichen Bereich<br />
Die Zweisprachigkeit (oder Dreisprachigkeit in den<br />
ladinischen Gebieten) in der öffentlichen Verwaltung ist<br />
eine Grundregel zur Sicherung der Gleichberechtigung<br />
aller Bürger eines mehrsprachigen Gebiets. Die beiden<br />
größeren Sprachen Südtirols, das Deutsche und das<br />
Italienische und in einem geographisch beschränkteren<br />
Sinne das Ladinische, sind in der öffentlichen Sphäre<br />
gleichrangig. Jeder Bürger des Landes kann sich in<br />
seiner Muttersprache an jede Stelle der öffentlichen<br />
Verwaltung wenden, einschließlich der Justiz und<br />
Polizei. Lange Jahre Geduld und Hartnäckigkeit waren<br />
vonnöten, um diese Situation zu erreichen (die noch<br />
nicht perfekt eingehalten wird), insbesondere um die<br />
Grundregel der Zweisprachigkeit jedes Beamten in der<br />
Praxis durchzusetzen.<br />
8) Ein solides Finanzierungssystem, um die soziale<br />
und wirtschaftliche Entwicklung autonom steuern zu<br />
können<br />
Die solide Finanzierung und eigenständige Wirtschaftspolitik<br />
bildet den unverzichtbaren “Unterbau” der Autonomie.<br />
Auch eine weitreichende Autonomie würde<br />
nicht funktionieren, wenn sie nicht mit ausreichend finanziellen<br />
Mitteln ausgestattet wäre. Obwohl Südtirol<br />
fast keine autonomen Steuerbefugnisse hat, kann das<br />
Land rund 90% des im Land erzielten Steuereinnahmen<br />
frei verausgaben. Dies verschafft dem Land im<br />
Verhältnis zu seiner Einwohnerzahl ein höheres Jahresbudget<br />
als die meisten nördlichen Bundesländer in<br />
seiner Nachbarschaft. In Italien kann nur die Autonome<br />
Region Aosta pro Kopf der Bevölkerung mehr ausgeben<br />
als Südtirol. Zudem verfügt Südtirol über die<br />
wichtigsten Kompetenzen, um eine eigenständige regionale<br />
Wirtschaftspolitik zu betreiben.<br />
6) Substanzielle Gleichberechtigung<br />
Die Gleichberechtigung bei sozialen und bürgerlichen<br />
Rechten bedeutet, dass jeder Bürger gleiche Rechte<br />
und Chancen genießt unabhängig von seiner<br />
Sprachgruppenzugehörigkeit. Wenn die gesamte<br />
öffentliche Verwaltung in einem Gebiet nur in der<br />
nationalen Sprache funktioniert und ständig eine<br />
Gruppe zu Lasten anderer privilegiert wird, besteht<br />
Chancengleichheit nur auf dem Papier. Die frühere<br />
Diskriminierung von Mitgliedern der Minderheit im<br />
öffentlichen Dienst hat zur Einführung eines strikten<br />
ethnischen Quotensystems geführt, dem „ethnischen<br />
Proporz“. Diese Methode hat es erlaubt, frühere<br />
Diskriminierungen aus der Zeit vor 1972 zu korrigieren<br />
und öffentliche Ressourcen nach einem objektiven<br />
Schlüssel zu verteilen.<br />
9) Kulturautonomie <strong>für</strong> jede der drei anerkannten<br />
Sprachgruppen<br />
Das Bildungssystem und die Kulturpolitik sind in<br />
Südtirol ziemlich strikt getrennt. Jede Volksgruppe<br />
hat ihr eigenes, exklusives Schulsystem mit der<br />
jeweiligen Haupt-unterrichtssprache. Doch ist die<br />
andere Landessprache ein Pflichtfach. Somit müsste<br />
zumindest theoretisch jeder Bewohner Südtirols,<br />
der im Land aufgewachsen ist, fließend beide oder<br />
in Ladinien alle drei Landessprachen sprechen. Die<br />
Zweisprachigkeit, gepaart mit dem Erlernen weiterer<br />
Fremdsprachen, macht ständige Fortschritte. Doch<br />
die Sprachgruppen vermischen sich nicht, sondern<br />
„koexistieren“.<br />
10) Eine zukunftsorientierte Autonomie (Konzept der<br />
“dynamischen Autonomie”)<br />
Es besteht die Möglichkeit, die Autonomie im Wege<br />
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