Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
2.5.2 Kultur- oder Personalautonomie<br />
Kultur- oder Personalautonomie wird den Mitgliedern<br />
einer ethnisch-sprachlich oder religiösen Gemeinschaft<br />
gewährt, die verstreut über ein größeres Gebiet<br />
siedelt oder kein abgrenzbares Territorium bewohnt.<br />
Sie erlaubt dieser Gemeinschaft, über gewählte<br />
Selbstverwaltungsorgane und religiöse bzw. kulturelle<br />
Institutionen eigene Rechtsnormen zu setzen und ihr<br />
kulturelles Leben selbst zu regeln. Im Unterschied zu<br />
Territorialautonomie wird durch Kultur-autonomie nicht<br />
einem Territorium ein Sonderstatus zu erkannt, sondern<br />
einer Gruppe von Personen, die zu diesem Zweck<br />
eine anerkannte Gemeinschaft oder freie Vereinigung<br />
öffentlichen Rechts bilden. Die Kulturautonomie<br />
eignet sich vor allem <strong>für</strong> jene historisch gewachsenen<br />
Umstände, wo nationale Minderheiten auch auf ihrem<br />
traditionellen Siedlungsgebiet zahlenmäßig in der<br />
Minderheit sind oder wo nationale Minderheiten aus<br />
verschiedensten Gründen Territorialautonomie nicht<br />
erhalten können oder gar nicht beanspruchen.<br />
Eine Funktionsbedingung ist <strong>für</strong> Kulturautonomie<br />
ganz wesentlich: die Institutionen und<br />
Selbstverwaltungsorgane einer kulturellen<br />
Gemeinschaft, die mit Kulturautonomie ausgestattet<br />
wird, müssen über ausreichende Repräsentativität <strong>für</strong><br />
die angepeilte Gesamtgruppe verfügen. Sie müssen<br />
somit einen beträchtlichen Teil der betroffenen<br />
Minderheit vertreten. Die Entscheidungen hinsichtlich<br />
Kulturautonomie müssen von frei gewählten<br />
demokratischen Organen dieser Gemeinschaft<br />
getroffen werden. Kulturautonomie muss alle<br />
Befugnisse umfassen, die <strong>für</strong> den Schutz, die Erhaltung<br />
und Entfaltung der kulturellen Identität einer Minderheit<br />
nötig sind, wie etwa<br />
- allgemeine kulturelle Angelegenheiten<br />
- das Bildungswesen, zumindest im<br />
Pflichtschulbereich<br />
- Information und Medien aller Art (Rundfunk,<br />
TV, elektronische Medien)<br />
- nationale Symbole, Denkmalschutz, Sitten<br />
und Bräuche, Ortsnamengebung<br />
- alle weiteren Gebiete, die aus der Sicht der<br />
Minderheit <strong>für</strong> die Erhaltung und Ausübung<br />
von Schutzrechten erforderlich sind.<br />
Der Zweck einer solchen Form von Autonomie ist<br />
nicht notwendigerweise auf den Schutz ethnischer<br />
Minderheiten beschränkt. Auch religiöse Minderheiten<br />
können aus einem solchen Status Nutzen ziehen,<br />
wie es das Beispiel der Muslime Indiens zeigt. Die<br />
Grundidee von Kulturautonomie zielt darauf ab,<br />
Minderheiten oder indigenen <strong>Völker</strong>n die Regelung<br />
der inneren Angelegenheiten zu erlauben, ohne<br />
Rechtssetzungsbefugnisse <strong>für</strong> andere Gruppen und<br />
Personen dieses Gebiets zu begründen. 74 Yash Ghai<br />
definiert Kulturautonomie als „nicht territoriale<br />
Autonomie“ oder „korporative Autonomie“, wenn<br />
eine ethnisch definierte Gruppe kollektive Rechte<br />
erhält. Die in dieser Form geschützten Rechte<br />
können kultureller Art (Zugang zu bestimmten<br />
Bildungs-institutionen), persönlicher (besondere<br />
Behandlung bei Doppelstaats-bürgerschaften) oder<br />
politischer Art sein (Mindestvertretung in politischen<br />
Institutionen, getrennte Ausübung des Wahlrechts und<br />
dergleichen).<br />
<strong>Moderne</strong> Formen von Kulturautonomie, die bisweilen<br />
auch „Personenautonomie“ genannt wird, finden<br />
sich in Verfassungen oder Staatsgesetzen Estlands,<br />
Ungarns, Sloweniens und Russlands, immer bezogen<br />
auf nationale Minderheiten. 75 Darüber-hinaus bildet<br />
Kulturautonomie ein Schlüsselelement im Aufbau des<br />
friedlichen Zusammenlebens und des fruchtbaren<br />
Austauschs ohne Diskriminierung innerhalb<br />
multiethnischer Regionen, in der auch die Mitglieder<br />
nationaler Mehrheiten in gleichberechtigter Weise ihre<br />
kulturellen Rechte in Anspruch nehmen können.<br />
2.5.3 Lokalautonomie (oder lokale<br />
Selbstverwaltung)<br />
Lokale Selbstverwaltung ohne Gesetzgebungsbefugnisse<br />
eignet sich <strong>für</strong> jene Fälle, in<br />
welchen Angehörige einer ethnischen Minderheit<br />
in kleineren Gemeinschaften verstreut leben<br />
oder nur in einigen Bezirken oder Gemeinden<br />
einer größeren Region die Mehrheit bilden. Im<br />
Allgemeinen werden bei dieser Autonomieform nur<br />
einige Verwaltungsbefugnisse übertragen, ohne<br />
den gewählten lokalen Institutionen (Gemeindeoder<br />
Bezirksräte) Gesetzgebungsbefugnisse<br />
zuzuerkennen. Lokalautonomie kommt echter<br />
Territorial-autonomie nicht gleich, sondern stellt eine<br />
von der allgemeinen vertikalen Gewaltenteilung<br />
abweichende Form der Selbstverwaltung in<br />
subregionalen Verwaltungseinheiten dar. Sie erlaubt<br />
es, den Bewohnern des autonomen Bezirks, Kreises<br />
oder Kommune neben den Aufgaben, die auch im<br />
übrigen Staatsgebiet von Bezirken, Kreisen oder<br />
74 Hurst Hannum (1996), Autonomy, Sovereignty, and Self-Determination,<br />
The accommodation of Conflicting Rights, University of<br />
Pennsylvania Press<br />
75 Yash Ghai (2000), S. 486; und Ruth Lapidoth (1997), 37-40