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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />

einer vorgeblichen „historischen Ausdehnung“ eine<br />

nationale Minderheit oder ein Minderheitenvolk<br />

wiederum in eine Minderheitensituation in der eigenen<br />

autonomen Einheit zurückdrängen. 368 Es stellt sich<br />

somit das Risiko, dass eine Territorialautonomie seine<br />

Grundziele des Minderheitenschutzes nicht erreicht,<br />

wenn die angepeilte Minderheit zahlenmäßig auch in<br />

der autonomen Region eine Minderheit bleibt.<br />

Das Konzept der Territorialautonomie ist ein flexibles<br />

Instrument zur Aufteilung von Befugnissen, doch<br />

wenn Minderheitenschutz das Oberziel ist, müssen<br />

unabhängig von der Größe der Minderheiten<br />

beide Faktoren die zentrale Rolle der Minderheit<br />

unterstützen: die Ziehung der Grenzen der betroffenen<br />

Region und die internen Formen der gemeinsamen<br />

konkordanzdemokratischen Machtausübung. 369<br />

Dieses Argument führt zu einer eminent wichtigen<br />

Frage, die den Erfolg von Territorialautonomie<br />

als Mittel der Konfliktlösung ganz wesentlich<br />

mitbestimmt: neben dem Willen einer ethnischkulturellen<br />

Gruppe, als solche weiter zu bestehen,<br />

ist im Rahmen eines pluralistischen Autonomiesystems<br />

auch der Wille zum Zusammenleben und<br />

zur Zusammenarbeit erforderlich. Wenn ethnische<br />

Gruppen aus geschichtlichen Gründen und infolge lang<br />

anhaltender Gewalt in offenem Konflikt gegeneinander<br />

stehen, kann das Machtteilungsarrangement und<br />

die gemeinsame Verantwortung kaum zum Tragen<br />

kommen. In einigen der heutigen Territorialautonomien<br />

haben die nationalen Minderheiten seit Einrichtung<br />

der Autonomie innerhalb der Region die Mehrheit<br />

gegenüber den Angehörigen der nationalen Mehrheit<br />

gehabt. Der fehlende Wille zur Kooperation und<br />

Achtung der Rechte interner Minderheiten hat in<br />

Einzelfällen sogar zu „ethnischer Säuberung“ geführt,<br />

dem Versuch, gewaltsam ethnisch-homogene<br />

Regionen herzustellen. Dies setzte den Bestand und<br />

die Chance auf Autonomie aufs Spiel, sowohl durch<br />

Eingreifen des Zentralstaats als auch durch den Entfall<br />

der Unterstützung von außen, der Schutzmacht oder<br />

der internationalen Gemeinschaft. Um das kreative<br />

368 Dies ist in den Atlantikregionen Nicaraguas der Fall, insbesondere<br />

in der RAAN, wo indigene <strong>Völker</strong> sich immer mehr unter<br />

Druck fühlen. Auch in verschiedenen autonomen Regionen und<br />

Republiken Russlands ist diese Konfliktlage aktuell, wo „Titular-<br />

Minderheitenvölker“ gegenüber der russischen Bevölkerung in der<br />

Minderheit sind.<br />

369 Dies wäre der Fall, wenn die Autonome Gemeinschaft des<br />

Baskenlands auch die Autonome Gemeinschaft von Navarra umfassen<br />

würde, in welcher eine nur kleine Minderheit von Baskisch-<br />

Sprechern lebt. Die Baskisch sprechenden und „fühlenden“ Personen<br />

wären in einem solchen „größeren Baskenland“ in der zahlenmäßigen<br />

Minderheit<br />

Potenzial einer Autonomie zu entfalten, müssen in<br />

solchen Fällen konkordanzdemokratische Mechanismen<br />

und eine gemeinsame politische Verantwor-tung die<br />

territoriale Dimension der Autonomie stärken, indem<br />

jede Art von Vergeltung oder innerer Diskriminierung<br />

vermieden wird.<br />

Somit darf die territoriale Dimension einer Autonomie<br />

nie unterschätzt werden, wenn eine dauerhafte<br />

Konfliktlösung und Frieden erreicht werden sollen.<br />

Wenn eine Autonomie Erfolg haben soll, müssen die<br />

einzelnen Volksgruppen einer multiethnischen Region<br />

diese Region als gemeinsames Haus begreifen,<br />

worin politische Macht und Verantwortung auf alle<br />

verteilt werden muss, zum Nutzen aller. Dies fällt<br />

dort besonders schwer, wo die demographische<br />

Zusammensetzung einer Region politisch verändert<br />

worden ist, indem zahlreiche Angehörige des<br />

Mehrheitsvolks des Staats neu angesiedelt wurden<br />

(Chittagong Berggebiete, Südtirol, Krim, Irian Jaya)<br />

oder bei starker Präsenz von Nachfahren einstiger<br />

Siedler der früheren Kolonialmächte (Caldoches in<br />

Neukaledonien, Mestizos in Nicaraguas Atlantikregion,<br />

christliche Filipinos im muslimischen Mindanao, Javaner<br />

auf Irian Jaya). Eine Atmosphäre der Vergeltung und<br />

umgekehrter Diskriminierung verschafft dem Staat<br />

nichts anderes als einen Vorwand, zu intervenieren<br />

und die Autonomie wieder zu beschränken.<br />

Der Faktor Zeit ist ebenfalls von Bedeutung: die<br />

meisten erfolgreichen Autonomie-systeme brauchten<br />

Jahrzehnte bis zur vollen Umsetzung (z.B. Südtirol,<br />

Åland Inseln, Grönland, Färöer, Puerto Rico, Comarca<br />

Kuna Yala). Ihre Autonomiestatute erfuhren wiederholt<br />

eine weitgehende Revision, die den Grad an Autonomie<br />

insgesamt erhöhte. Autonomieprozesse in Ostasien<br />

zeigen, dass die Abtretung eines Teils der Staatsgewalt<br />

an substaatliche Einheiten in Staaten wie Papua Neu<br />

Guinea, Indonesien, den Philippinen aber auch in<br />

Frankreich lange Zeit und Geduld der betroffenen<br />

Regionen erforderte. Der vielleicht schmerzlichste<br />

Werdegang einer Autonomielösung war jener des<br />

Südsudan mit 19 Jahren Krieg und politischem Konflikt<br />

und mehr als zwei Millionen Opfern. Im Nachhinein lässt<br />

sich erkennen, dass der sudanesische Staat, so wie er<br />

aus der Kolonialzeit heraus 1954 gegründet worden<br />

war, sich nie <strong>für</strong> ein stabiles Autonomiesystem <strong>für</strong> den<br />

Süden engagiert hat. Überdies ist die Bevölkerung<br />

des südlichen Teils des nach Fläche größten Staats<br />

Afrikas nie in demokratischer Form um Zustimmung<br />

zur „Zwangsehe“ mit dem Norden befragt worden.<br />

Stabilität scheint ein weiteres wichtiges Element zu

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