06.11.2013 Aufrufe

Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

3 Territorialautonomie am Werk<br />

1985, als Neu-Kaledonien den Status eines Überseegebiets<br />

hatte, organisierte sich der militante Widerstand<br />

gegen die Franzosen in der „Front de Libération<br />

National Kanak Socialiste“ (FLNKS). Unter der Führung<br />

des legendären Jean Marie Tjibaou kämpfte die Befreiungsfront<br />

<strong>für</strong> einen unabhängigen Staat Kanaky.<br />

Tjibaou wurde zwar nach einigen blutigen Angriffen<br />

1989 ermordet, konnte aber Paris 1988 ein erstes<br />

Abkommen zur Stärkung der Autonomie der Insel abringen:<br />

die Matignon-Übereinkunft. Erst ein Jahrzehnt<br />

später besiegelten die politischen Vertreter Neu-Kaledoniens<br />

und die französische Regierung den neuen<br />

Autonomiestatus im Abkommen von Nouméa von<br />

1998, das einen als irreversibel bezeichneten Autonomieprozess<br />

einleitete. Das Abkommen schuf u.a. eine<br />

neukaledonische Staatsbürgerschaft, offizielle Symbole<br />

der neukaledonischen Identität und verankerte die<br />

Möglichkeit, ab 2014 eine Volksabstimmung über den<br />

endgültigen Status der Insel abzuhalten.<br />

James Cook die Hauptinsel und benannte sie mit<br />

dem poetisch-patriotischen Begriff <strong>für</strong> Schottland,<br />

nämlich Kaledonien. Im 19. Jahrhundert wurde die<br />

indigene Inselbevölkerung auf den Sklavenmärkten<br />

<strong>für</strong> die Zuckerrohrplantagen zwischen Fidschi und<br />

dem australischen Queensland verkauft. Christliche<br />

Missionare kamen auf die Insel und beseitigten<br />

zahlreiche indigene Traditionen und Bräuche.<br />

1853 wurde die Insel von Frankreich besetzt, als<br />

Napoleon III. versuchte, sich gegenüber der britischen<br />

Vormacht im Pazifikraum zu behaupten. Nach dem<br />

Beispiel der britischen Politik in Australien, siedelte<br />

Frankreich zwischen 1854 und 1922 insgesamt<br />

22.000 verurteilte Strafgefangene, sog. felons, in<br />

Strafkolonien an der Südwestküste der Insel an. Unter<br />

diesen Gefangene befanden sich sowohl Kriminelle,<br />

als auch politische Häftlinge wie etwa die Pariser<br />

Sozialisten und kabylische Nationalisten aus den<br />

französisch beherrschten Maghreb-Ländern. Gegen<br />

Ende der Ära der Strafkolonie siedelten sich auch<br />

freie Europäer neben den inzwischen freigelassenen<br />

ehemaligen Häftlingen an. Die Zahl der europäischen<br />

Siedler und Lohnarbeiter aus anderen Teilen Asiens<br />

überstieg bald die Zahl der Einheimischen. Im selben<br />

Zeitraum schrumpfte die indigene Bevölkerung<br />

der Kanaken rasch infolge von eingeschleppten<br />

Krankheiten und Zwangsarbeit. Die Kanaken wurden<br />

einem Apartheid-ähnlichen System unterworfen, dem<br />

Code de l’Indigénat, das ihrer Bewegungsfreiheit,<br />

ihrem Eigentum an Grund und Boden und ihren<br />

Lebensgrundlagen enge Grenzen setzte.<br />

Die relative Mehrheit der Bevölkerung besteht unter<br />

ethnischem Aspekt aus melanesischen Kanaken (44,6%,<br />

1996), während Polynesier und Indonesier weitere<br />

15% ausmachen. Weiße Europäer, die seit mehreren<br />

Generationen auf Neu-Kaledonien gelebt haben,<br />

werden caldoches genannt, während die in jüngerer<br />

Zeit eingewanderten Franzosen „metropolitains“<br />

genannt werden. Letztere siedeln sich <strong>für</strong> kürzere<br />

Arbeitseinsätze an oder verbringen ihren Lebensabend<br />

auf der Insel. Bis 1998 waren die indigenen Kanaken<br />

sozial und wirtschaftlich diskriminiert, während<br />

die wohlhabenden französischen Immigranten die<br />

Schlüsselpositionen in Verwaltung und Wirtschaft<br />

innehatten. Dies führte zu immer mehr Unzufriedenheit<br />

unter der indigenen Bevölkerung, die sich in den 80er<br />

Jahren in Gewaltakten entlud.<br />

Die Unabhängigkeitsbewegung hat Frankreich oft<br />

vorgeworfen, das demographische Gleichgewicht<br />

zwischen den ethnischen Gemeinschaften verzerren zu<br />

wollen, indem insgeheim Tausende von französischen<br />

Immigranten zusätzlich zu den seit Generationen<br />

auf Neu-Kaledonien lebenden „caldoches“ auf der<br />

Insel angesiedelt werden. Aus diesem Grunde sind<br />

Volkszählungen in Neu-Kaledonien eine sehr heikle<br />

Angelegenheit. Nach 1996 wurde die neue Volkszählung<br />

ständig verschoben und schließlich 2004 inmitten<br />

heftiger Polemiken über das ethnische Gleichgewicht<br />

abgehalten. Auf Veranlassung des französischen<br />

Staatspräsidenten Chirac wurden die Fragen zur<br />

ethnischen Zugehörigkeit von den Fragebögen 2004<br />

gestrichen. Die offizielle Begründung da<strong>für</strong> lautete,<br />

dass solche Fragen verfassungswidrig seien, da keine<br />

Unterscheidung in ethnischer und religiöser Hinsicht<br />

zwischen französischen Staatsbürger zulässig sei. Die<br />

175

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!