Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
216<br />
4.4.1 Der geschichtliche Hintergrund<br />
Seit Beginn der Qing-Dynastie entwickelte sich China<br />
als ein einheitliches und zentralistisches Reich, in der<br />
Regel regiert von Han-Herrscherhäusern. Angesichts<br />
seiner Grundstruktur als Einheitsstaat war China der<br />
Idee der Selbstbestimmung kleinerer <strong>Völker</strong> nie sehr<br />
zugetan, zumal diese Idee auch zur Sezession vom<br />
Kaiserreich führen konnte. Die gängige Haltung der<br />
chinesischen Herrscher gegenüber den ethnischen<br />
Minderheiten war im Laufe der langen Geschichte<br />
immer vom Versuch geprägt, diese Gruppen durch<br />
die schiere demographische, wirtschaftliche und<br />
militärische Überlegenheit zu assimilieren. Dies<br />
wurde auch durch die zwangsweise Ansiedlung von<br />
Han-Chinesen in den Gebieten der Minderheiten oder<br />
durch Umsiedlung von Minderheiten in Gebiete mit<br />
Han-Mehrheiten bewerkstelligt. Doch erwies sich diese<br />
Politik nicht immer als erfolgreich, sondern vertiefte<br />
bisweilen auch die Kluft zwischen Han-Chinesen<br />
und kleineren <strong>Völker</strong>n. Diese haben lang in engem<br />
Kontakt mit der dominanten Han-Kultur gelebt, die<br />
alle Lebensbereiche tief beeinflusste. Von den meisten<br />
dieser kleineren <strong>Völker</strong> nimmt man heute an, dass<br />
sie sich freiwillig in eine übergreifende „chinesische<br />
Nationalität“ einfügen, die nach offizieller Lesart alle<br />
Ethnien auf dem chinesischen Territorium einschließt.<br />
Dabei könnten sie ihre ethnisch-nationalen Eigenarten<br />
durchaus bewahren. Diese Auffassung wird jedoch von<br />
Tibetern, Uiguren und Mongolen nicht geteilt.<br />
Andererseits befanden die chinesischen Kommunisten,<br />
dass der sowjetische Ansatz der Schaffung eigener<br />
Teilrepubliken <strong>für</strong> Minderheitenvölker im Rahmen<br />
eines Bundesstaates <strong>für</strong> chinesische Verhältnisse<br />
ungeeignet war und im neuen kommunistischen<br />
Staat keine Neuauflage finden sollten. Das zentrale<br />
Argument <strong>für</strong> diese Position war, dass die Errichtung<br />
einer nationalen Republik die Existenz einer<br />
unabhängigen Volkswirtschaft voraussetze, was<br />
laut der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) nicht<br />
gegeben war. 331 Deshalb verlegte man sich in der KPC<br />
schnell auf das Konzept der territorialen oder regionalen<br />
Autonomie <strong>für</strong> nationale Minderheiten. Dieses Konzept<br />
wurde schon auf dem ersten Nationalkongress der<br />
„Chinesischen Sowjetrepublik“ 1931 beschlossen<br />
und von Mao Zedong auf der 6. Vollversammlung der<br />
KPC 1938 bestätigt. Die Mongolen, Hui, Tibeter, Miao,<br />
Yao, Yi und andere <strong>Völker</strong> sollten gleiche Rechte wie<br />
331 Zhu Guobin/Yu Lingyun (2000), Regional Minority Autonomy<br />
in the PRC: A preliminary Appraisal from a Historical Perspective,<br />
in: International Journal on Minority and Group Rights, Kluwer Den<br />
Haag, no.7/2000, S. 47<br />
die Han genießen und ihre inneren Angelegenheiten<br />
eigen-ständig regeln dürfen.<br />
Ursprünglich umfasste das Konzept der nationalen<br />
regionalen Autonomie auch Elemente wie<br />
Selbstbestimmung und sogar Föderalismus nach<br />
sowjetischem Muster. Doch der Krieg gegen Japan<br />
von 1937 bis 1945 führte definitiv zum Festhalten<br />
am zentralen Wert der „nationalen Integrität“<br />
Chinas. So befand die KPC, dass nationale Fragen im<br />
neuen kommunistischen Staat grundsätzlich durch<br />
Regionalautonomie gelöst werden sollten, die zwar von<br />
den Minderheiten kontrolliert werden konnten, sich aber<br />
im Rahmen des Einheitsstaats zu bewegen hatten. Die<br />
Furcht vor einer fremden Invasion und die Erfahrung<br />
der japanischen Besatzung der Mandschurei führte zu<br />
einem Generalverdacht gegenüber dem Föderalismus<br />
und potenziell sezessionistischen Bewegungen in den<br />
Grenzregionen des Reichs. Das kommunistische China<br />
lehnte zwar den Han-Chauvinismus und Assimilationsbestrebungen<br />
genauso ab, verwehrte den kleineren<br />
<strong>Völker</strong>n von vornherein die Staatlichkeit und das volle<br />
Selbstbestim-mungsrecht. Um diesen Minderheiten<br />
Assimilationsängste zu nehmen, richtete China im<br />
Rahmen einer neuen, auf „Gleichberechtigung, Einheit<br />
und gegenseitiger Unterstützung fußenden Beziehung<br />
innerhalb Chinas“ Regionalautonomien ein.<br />
Im 1949 vom politisch-konsultativen Volkskongress<br />
beschlossenen gemeinsamen Programm wurde in<br />
Art. 51 Regionalautonomie <strong>für</strong> „konzentriert lebende<br />
Minderheiten“ verankert, jedoch unter der allgemeinen<br />
Auflage der Einheit zur Verhinderung jeglicher<br />
Sezessionsbestrebung. Die Kommunistische Partei<br />
setzte also schon bei der Staatsgründung auf das<br />
Autonomie-konzept, auch weil zahlreiche traditionelle<br />
Minderheitengebiete tatsächlich gemischt besiedelt<br />
waren. Dieser Ansatz wurde im „Allgemeinen<br />
Programm“ von 1952 und in der Verfassung von 1954<br />
bestätigt, später in der Verfassung von 1982 unter dem<br />
Grundsatz „Autonomie und Einheit“ weitergeführt. 332<br />
Als erste Autonome Region entstand schon 1947, zwei<br />
Jahre vor der Gründung der chinesischen Volksrepublik,<br />
auf dem von den Kommunisten kontrollierten Gebiet<br />
Chinas die Region Innere Mongolei. 1955 wurde Xinjiang<br />
von einer normalen Provinz zu einer Autonomen<br />
Region befördert, Guangxi und Ningxia folgten 1957.<br />
Die offizielle Minderheitenpolitik hielt die chinesische<br />
Führung aber nicht davon ab, andere Nachbarländer<br />
332 Guobin/Lingyun (2000), S. 52; laut chinesischer Verfassung<br />
von 1982 ist die VR China ein “einheitlicher multinationaler Staat,<br />
der gemeinsam von den Menschen all seiner Nationalitäten begründet<br />
worden ist“ (Präambel). Vgl. auch die offizielle Website der chinesischen<br />
Regierung: http://www.gov.cn