Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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Besonderheit des indischen Föderalismus besteht<br />
in der Macht, die das Unionsparlament in der<br />
Schaffung neuer Staaten und Änderung der Grenzen<br />
bestehender Gliedstaaten hat. Dies ließ schon manche<br />
Verfassungsrechtler die Frage aufwerfen, ob Indien<br />
überhaupt ein Bundesstaat sei. 262 Indien ist tatsächlich<br />
ein Bundesstaat, jedoch nicht als Ergebnis des freien<br />
Willens einer bestimmten Gruppe von Staaten, einen<br />
gemeinsamen Föderalstaat zu bilden. Somit kann auch<br />
kein Gliedstaat die Union wieder verlassen, oder anders<br />
gesagt: das Recht auf Sezession ist ausgeschlossen.<br />
Vielmehr sieht Artikel 332 der Verfassung vor, dass<br />
der indische Bundesstaat in einer Zeit des Notstands<br />
sich in einen Einheitsstaat verwandeln kann. 263<br />
Die Verteilung der Gesetzgebungsbefugnisse zeigt<br />
eine starke Tendenz zur Zentralisierung der Staatsmacht<br />
im Zentrum auf. Das Unionsparlament kann<br />
unter folgenden Bedingungen in jedem Bereich der<br />
Gliedstaatskompetenzen gesetzgeberisch eingreifen:<br />
264<br />
-<br />
-<br />
wenn der Staatenrat (Council of States) mit<br />
2/3-Mehrheit empfiehlt, dass eine solche<br />
Gesetzgebung im nationalen Interesse liegt;<br />
wenn zwei oder mehr Staaten übereinstimmend<br />
eine solche Gesetzgebung <strong>für</strong> sich fordern;<br />
262 A.G. Nourani, Constitutional Questions in India, Oxford, Clarendon<br />
Press 2000, S. 23. Die indische Verfassung findet sich unter:<br />
http://www.oefre.unibe.ch/law/icl/in01000_.html<br />
263 Ashutosh Kumar (2005), S.95<br />
264 A.G. Nourani (2000), S.25<br />
3 Territorialautonomie am Werk<br />
- zum Zweck der Erfüllung internationaler<br />
Verträge und Abkommen;<br />
- im Fall eines Notstands und bei Scheitern der<br />
verfassungsrechtlichen Schutzmechanismen.<br />
Oft kritisiert wurde am indischen Föderalismus<br />
jene Norm, die der Union das Recht gibt, die<br />
Regierungsgewalt in einem Gliedstaat unter Berufung<br />
auf einen nationalen Notstand selbst zu übernehmen<br />
(Art. 356). Diese sog. „Präsidentenherrschaft“<br />
(President’s rule) ist seit 1950 mehr als hundert Mal<br />
angewandt worden.<br />
Indien ist zudem ein „asymmetrischer Bundesstaat“,<br />
da einzelne Gliedstaaten eine andere Rechtsstellung<br />
haben als die normalen Gliedstaaten. Zumindest auf<br />
dem Papier wird den Staaten Jammu und Kaschmir, den<br />
sieben Staaten des Nordostens, Maharashtra, Goa und<br />
Gujarat ein Sonderstatus eingeräumt. Doch sieht die<br />
indische Verfassung <strong>für</strong> die übrigen Gliedstaaten keinen<br />
differenzierten Status oder Autonomie-Sonderrechte<br />
vor. Somit folgt sie dem Modell des asymmetrischen<br />
Föderalismus nicht durchgehend, sondern nur im Teil<br />
XXI der Verfassung unter den „zeitweisen, Übergangsund<br />
sozialen Bestimmungen“. 265<br />
Das Schlüsselkriterium zur inneren territorialen<br />
Aufteilung der Indischen Union war seit den 1950er<br />
Jahren die Sprache. In Indien werden mindestens<br />
114 größere Sprachen gesprochen, nur 18 davon<br />
sind aber als offizielle Sprachen anerkannt. 266 Es gilt<br />
das Prinzip, dass die in einem Gliedstaat dominante<br />
Mehrheitssprache als Staats-sprache anerkannt<br />
und in der Verwaltung und im Bildungswesen<br />
Verwendung finden muss. Diese in Indiens Geschichte<br />
bisher unbekannte Verbindung von Amtssprache<br />
und Territorium hat zu einem politisch-kulturellen<br />
Einigungsprozess im Rahmen der sprachlich<br />
definierten Staaten geführt. In ganz Indien wurde<br />
dadurch auch die Zweisprachigkeit (1991: 19,1% der<br />
Gesamtbevölkerung) und Dreisprachigkeit (1991:<br />
7,26%) stark gefördert.<br />
Während der indische Staat auf diese Weise die<br />
meisten Forderungen der größeren <strong>Völker</strong> und<br />
ethnisch-sprachlichen Gemeinschaften hinsichtlich<br />
der Organisation der Gliedstaaten nach Sprachgrenzen<br />
265 Ashutosh Kumar (2005), S. 96<br />
266 Eine vollständige Übersicht über die Sprachenlandschaft Indiens<br />
bietet Roland J.-L. Breton, Atlas Geographique des Langues e<br />
des Ethnies de l’Inde et du Subcontinent, Université Laval, Québec<br />
1976. Eine ausgezeichnete Analyse der Sprachpolitik Indiens liefert<br />
Daniel Blum, Sprache und Politik: Sprachpolitik und Sprachnationalismus<br />
in der Republik Indien und dem sozialistischen Jugoslawien<br />
1945-1991, Ergon, Würzburg 2002. Auch der Autor hat zu diesem<br />
Thema geforscht: Thomas Benedikter (2009), Language Policy<br />
and Linguistic Minorities in India, LIT Berlin<br />
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