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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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2.9 Einwände gegen<br />

Autonomie und ihre<br />

Grenzen<br />

In vielen Fällen der jüngsten Geschichte haben<br />

Zentralstaaten, die in Konflikt mit nationalen<br />

Minderheiten oder kleineren <strong>Völker</strong>n auf ihrem<br />

Staatsgebiet standen, sich lange Zeit gegen<br />

Autonomielösungen gewehrt und oft Bewegungen<br />

<strong>für</strong> nationale Befreiung und regionale Autonomie<br />

mit Gewalt bekämpft. Den Machtzentren eines<br />

Einheitsstaats fordert die Gewährung von Autonomie<br />

tatsächlich Einiges ab: wichtige politische und<br />

rechtliche Befugnisse müssen abgegeben werden,<br />

allerdings nicht zu Lasten der inneren und äußeren<br />

Sicherheit und der Souveränität des Staats; die<br />

politischen Gruppen und militanten Organisationen<br />

der Minderheiten oder Regionen müssen anerkannt,<br />

gemeinsame Institutionen begründet, Ressourcen in<br />

gerechter Weise aufgeteilt werden, Verhandlungen<br />

mit Schutzmachtstaaten geführt werden – keine<br />

leichte Kost <strong>für</strong> Staaten mit einer zentralistischen<br />

Tradition. Wenn Territorialautonomie (oder auch ein<br />

Föderalsystem) als Lösung <strong>für</strong> ethnische Konflikte<br />

in Betracht gezogen wird, ist somit innerhalb der<br />

politischen Eliten von Einheitsstaaten vor allem mit<br />

folgenden Ängsten zu rechnen: 96<br />

• Die Unterstützung durch die allgemeine<br />

Wählerschaft und den am stärksten nationalistisch<br />

orientierten Teil der gesamtstaatlichen Wählerschaft<br />

könnte verloren gehen, wenn die verantwortlichen<br />

Politiker „zu viel“ Autonomie gewähren.<br />

• Die Gewährung von Autonomie könnte der<br />

erste Schritt zur Sezession der betroffenen<br />

Region sein. Die nationalen Minderheiten<br />

oder Minderheitenvölker könnten die neuen<br />

Machtbefugnisse dazu nutzen, sezessionistische<br />

Bestrebungen wieder aufzunehmen.<br />

• Ein bestimmter Grad an Autonomie könnte nicht<br />

ausreichen und von der Minderheit wieder in<br />

Frage gestellt werden. Dadurch könnten neue<br />

Spannungen aufflackern. und gewaltsame Konflikte<br />

von Neuem ausbrechen.<br />

• Die Errichtung einer Territorial-autonomie könnte<br />

Autonomieforderungen seitens anderer Regionen<br />

und nationaler Minderheiten auslösen. In einem so<br />

genannten Domino-Effekt würde die Einheit oder<br />

gar Existenz des Staates insgesamt gefährdet.<br />

• Die Errichtung einer Regionalautonomie könnte<br />

neue Minderheiten innerhalb der autonomen<br />

96 Das Pro und Contra wird auch von Ruth Lapidoth (1997) erörtert<br />

in: Autonomy: a flexible solution to ethnic conflict, S. 203-206<br />

2 Das Konzept der politischen Autonomie<br />

Region konstituieren, da kleinere Gruppen und<br />

die Angehörigen der staatlichen Titularnation<br />

nach Gruppen- und Minderheitenrechten rufen<br />

würden. 97<br />

• Der Verlust der Kontrolle über natürliche Ressourcen<br />

und finanzielle Einnahmen <strong>für</strong> den Staat könnte die<br />

Macht der Zentralregierung ernsthaft schwächen,<br />

insbesondere wenn die betroffene Region relativ<br />

reich ist.<br />

Andererseits werden Einwände gegen Autonomie<br />

auch von betroffenen nationalen Minderheiten oder<br />

Minderheitenvölkern artikuliert. Aufgrund negativer<br />

Erfahrungen in der Geschichte vertrauen viele solcher<br />

<strong>Völker</strong> nicht mehr einer bloß innenpolitisch vereinbarten<br />

Lösung, die auch zum Verlust der manchmal schwer<br />

erkämpften militärischen Macht gegenüber dem<br />

Zentralstaat führen würde. Insbesondere nach jahreoder<br />

jahrzehntelangem gewaltsamen Konflikt und<br />

im Rahmen eines unzureichenden Rechtsstaates<br />

und fehlender internationaler Verankerung<br />

werden Minderheiten kaum darauf vertrauen,<br />

dass die Regierungen besondere Abkommen und<br />

Versprechungen voll einhalten und umsetzen, wenn<br />

die Waffen einmal gestreckt sind. 98<br />

Darüber hinaus haben manche politischen Vertreter<br />

von Minderheiten und ihrer Organisationen<br />

Bedenken hinsichtlich der rechtlichen und politischen<br />

Konsequenzen eines Autonomiearrangements:<br />

erfordert politische Autonomie den definitiven<br />

Verzicht auf externe Selbstbestimmung? Wird „bloße“<br />

Autonomie auf lange Sicht zur Assimilation in das<br />

Mehrheitsvolk führen? Wird die Autonomie die Einheit<br />

der Minderheit im Kampf <strong>für</strong> die kollektiven Rechte<br />

gefährden? Und zudem: welche Instanz oder Macht<br />

wird Garantie <strong>für</strong> die volle Verwirklichung und Achtung<br />

des Autonomiesystems bieten? Solch heikle Fragen<br />

haben in jüngster Geschichte auch bittere Konflikte<br />

innerhalb von Widerstandsbewegungen ausgelöst. 99<br />

97 Z.B. die Muslime in Sri Lankas Nordosten, die christlichen<br />

Filipinos in Mindanao, die Hindus in Jammu und Kaschmir;<br />

die Rumänen in Transsylvanien, die Südtirol-Italiener.<br />

98 Tatsächlich sind einige nationale Minderheiten in der Vergangenheit<br />

mit Autonomieversprechungen ausgetrickst worden, die<br />

niemals eingehalten worden sind: Eritrea von Äthiopien bis 1968,<br />

der Südsudan von 1954 bis 1983; die indigenen <strong>Völker</strong> der Chittagong<br />

Hill Tracts seit 1999, die Kurden des Irak in der ersten, von<br />

Saddam Hussein beendeten Autonomie 1974 und 1980. Doch auch<br />

wenn eine Zentralregierung Autonomievereinbarungen nicht einhält,<br />

muss nicht unbedingt wieder Gewalt ausbrechen. Der Konflikt kann<br />

vielmehr auf eine politische Ebene gehoben werden, wie es derzeit<br />

in Nordirland geschieht, dessen Autonomie nur zögerlich Fuß<br />

fasst, und im Baskenland, das seine Autonomie zu erweitern sucht.<br />

99 Ein bekanntes Beispiel da<strong>für</strong> sind wiederum die Chittagong-<br />

Berggebiete in Bangladesh, das Muslimische Mindanao auf den<br />

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