Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
2.1 Vertikale Gewaltenteilung<br />
im modernen<br />
Staat<br />
Das von Europas Staatsvätern propagierte Ideal<br />
lautete: “Eine Nation – Ein Staat”. Doch in fast keinem<br />
dieser Staaten konnte dieses Ideal jemals erreicht<br />
werden. In allen europäischen Staaten mit Ausnahme<br />
der Kleinststaaten, 2 leben nationale Minderheiten.<br />
Die Bevölkerung der allermeisten Staaten Europas<br />
setzt sich aus einer ethnischen Gruppe zusammen,<br />
die zahlenmäßig die Mehrheit bildet (Titularnation)<br />
und einer Gruppe von ethnischen Minderheiten, deren<br />
Zahl sich zwischen 3 und 45 bewegt. 3 Mit größter<br />
Wahrscheinlichkeit teilt die Mehrheit der heute 191<br />
Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (VN) dieses<br />
Grundmerkmal.<br />
Im Allgemeinen leben die meisten nationalen oder<br />
ethnischen Minderheiten in ihrem angestammten<br />
Heimatland. Doch im Zuge der geschichtlichen<br />
Entwicklung fanden sie sich als Teil eines Staats mit<br />
einer anderen „Titularnation“, also einer nationalen<br />
Mehrheitsbevölkerung wieder, die allein schon aus<br />
demographischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />
Gründen eine dominante Rolle ausübt. Ethnische<br />
Minderheiten sind in solchen Staaten strukturell<br />
benachteiligt und oft von jeder Machtbeteiligung<br />
ausgeschlossen. Wie kann dieser „implizite<br />
Strukturfehler“ ausgeglichen werden? Sind Anti-<br />
Diskriminierungsmaßnahmen auf individueller Ebene<br />
ausreichend? Wie können Chancengleichheit und<br />
Gleichberechtigung <strong>für</strong> Mehrheit und Minderheiten<br />
verschiedener ethnischer Identität gewahrt werden?<br />
Ein Weg dahin, dieses strukturelle Ungleichgewicht<br />
auszugleichen, ist der, eine ethnische Minderheit<br />
in ihrer angestammten Region mit allen <strong>für</strong> ihren<br />
kulturellen Bestand und die Wahrung ihrer kollektiven<br />
Minderheitenrechten nötigen politischen Befugnissen<br />
auszustatten. In der jüngsten Geschichte waren<br />
solche Regelungen eines der wichtigsten Instrumente,<br />
die Benachteiligung von Minderheiten gegenüber den<br />
Titularnationen innerhalb desselben Staatsgebiets in<br />
gewissem Maße auszugleichen. In grober Vereinfachung<br />
ist dies der Grundansatz <strong>für</strong> Territorial-autonomie. Auf<br />
theoretischer Ebene ist das Konzept der Autonomie<br />
von der Existenz und Anerkennung von ethnischen<br />
2 Europäische Staaten mit weniger als 1 Million Einwohner: Andorra,<br />
Zypern, Island, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco,<br />
Montenegro, San Marino und der Vatikan.<br />
3 In der Russischen Föderation (2005 nach Bevölkerung mit 143<br />
Millionen der größte europäische Staat) sind 45 ethnische Minderheiten<br />
offiziell anerkannt.<br />
bzw. nationalen Minderheiten abgeleitet worden, die<br />
Träger von kollektiven Gruppenrechten sind.<br />
In der Nachkriegszeit hat das im Rahmen der VN<br />
entwickelte Rechtssystem den Schwerpunkt allerdings<br />
auf die individuelle Dimension der Menschenrechte<br />
gelegt, die als universeller Standard etabliert<br />
worden sind. 4 Erst nach der Entkolonisierung, nach<br />
dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und der<br />
Zunahme von innerstaatlichen Konflikten, die aus der<br />
Missachtung von Minderheiten aller Art herrühren,<br />
hat die internationale Gemeinschaft verstärkte<br />
Aufmerksamkeit auf die kollektive Dimension der<br />
Minderheitenrechte gelegt. Die Rechte ethnischer<br />
Minderheiten sind Teil grundlegender Menschenrechte<br />
zum Schutz der Menschenwürde gegenüber dem Staat.<br />
Doch im Unterschied zu den klassischen individuellen<br />
Menschen-rechten gibt es Minderheitenrechte, die<br />
aufgrund ihrer Natur und rechtlichen Festschreibung<br />
nur kollektiv oder gemeinschaftlich ausgeübt werden<br />
können, wie z. B. religiöse und kulturelle Tätigkeiten,<br />
die Bildungsmöglichkeiten, der Sprachgebrauch im<br />
öffentlichen Dienst, das Recht auf Information. Wie<br />
können „nicht-titulare“ Minderheitengruppen in einem<br />
Staat mit einer anderen Titularnation in den vollen<br />
Genuss dieser Rechte kommen?<br />
Die meisten gewaltsam ausgetragenen Konflikte<br />
sind auf die Rolle des Staates in der <strong>Gesellschaft</strong><br />
zurückzuführen, der mächtigsten Organisation in<br />
nahezu allen Ländern der Erde. 5 Die Kontrolle des<br />
Staatsapparats verschafft Zugang zu sozialem Status<br />
und zu politischer Macht und regelt die Verteilung<br />
wichtiger wirtschaftlicher und finanzieller Ressourcen.<br />
Daraus entsteht ein permanenter Wettbewerb um<br />
die Kontrolle staatlich gebotener Möglichkeiten der<br />
Machtausübung. Die unvermeidlichen Konflikte können<br />
durch eine gerechtere Verteilung von Ressourcen,<br />
durch rechtlich abgesicherte Chancengleichheit, durch<br />
Anerkennung von Minderheitenrechten zur Vertretung<br />
und Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an der<br />
4 Es gibt eine ganze Reihe hervorragender Datenbanken bezüglich<br />
Minderheitenrechte, wovon hier nur vier genannt werden sollen:<br />
http://www.eurac.edu/miris: das Informationssystem <strong>für</strong> das Minderheitenrecht<br />
der Europäischen Akademie Bozen; http://<br />
www.eblul.org: das Europäische Büro <strong>für</strong> Sprachminderheiten;<br />
http://www.coe.int/T/E/human_rights/minorities: Minderheitenabteilung<br />
des Europarats; http://www.ecmi.org: das Europäische<br />
Zentrum <strong>für</strong> Minderheitenrechte ECMI in Flensburg.<br />
5 In einigen Ländern (“gescheiterte” Staaten) wie z.B. Somalia<br />
oder Westsahara besitzt der international anerkannte Staat keine<br />
Kontrolle über den größeren Teil seines Territoriums. Einige andere<br />
Staaten haben kleinere Teile ihres Gebiets nicht unter ihrer Kontrolle<br />
(Kolumbien, Myanmar/Burma, Georgien, Moldawien, Aserbaidschan,<br />
Zypern). Laufende bewaffnete Konflikte sind zu entnehmen<br />
aus: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_ongoing_conflicts