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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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14<br />

<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />

2.1 Vertikale Gewaltenteilung<br />

im modernen<br />

Staat<br />

Das von Europas Staatsvätern propagierte Ideal<br />

lautete: “Eine Nation – Ein Staat”. Doch in fast keinem<br />

dieser Staaten konnte dieses Ideal jemals erreicht<br />

werden. In allen europäischen Staaten mit Ausnahme<br />

der Kleinststaaten, 2 leben nationale Minderheiten.<br />

Die Bevölkerung der allermeisten Staaten Europas<br />

setzt sich aus einer ethnischen Gruppe zusammen,<br />

die zahlenmäßig die Mehrheit bildet (Titularnation)<br />

und einer Gruppe von ethnischen Minderheiten, deren<br />

Zahl sich zwischen 3 und 45 bewegt. 3 Mit größter<br />

Wahrscheinlichkeit teilt die Mehrheit der heute 191<br />

Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (VN) dieses<br />

Grundmerkmal.<br />

Im Allgemeinen leben die meisten nationalen oder<br />

ethnischen Minderheiten in ihrem angestammten<br />

Heimatland. Doch im Zuge der geschichtlichen<br />

Entwicklung fanden sie sich als Teil eines Staats mit<br />

einer anderen „Titularnation“, also einer nationalen<br />

Mehrheitsbevölkerung wieder, die allein schon aus<br />

demographischen, sozialen und wirtschaftlichen<br />

Gründen eine dominante Rolle ausübt. Ethnische<br />

Minderheiten sind in solchen Staaten strukturell<br />

benachteiligt und oft von jeder Machtbeteiligung<br />

ausgeschlossen. Wie kann dieser „implizite<br />

Strukturfehler“ ausgeglichen werden? Sind Anti-<br />

Diskriminierungsmaßnahmen auf individueller Ebene<br />

ausreichend? Wie können Chancengleichheit und<br />

Gleichberechtigung <strong>für</strong> Mehrheit und Minderheiten<br />

verschiedener ethnischer Identität gewahrt werden?<br />

Ein Weg dahin, dieses strukturelle Ungleichgewicht<br />

auszugleichen, ist der, eine ethnische Minderheit<br />

in ihrer angestammten Region mit allen <strong>für</strong> ihren<br />

kulturellen Bestand und die Wahrung ihrer kollektiven<br />

Minderheitenrechten nötigen politischen Befugnissen<br />

auszustatten. In der jüngsten Geschichte waren<br />

solche Regelungen eines der wichtigsten Instrumente,<br />

die Benachteiligung von Minderheiten gegenüber den<br />

Titularnationen innerhalb desselben Staatsgebiets in<br />

gewissem Maße auszugleichen. In grober Vereinfachung<br />

ist dies der Grundansatz <strong>für</strong> Territorial-autonomie. Auf<br />

theoretischer Ebene ist das Konzept der Autonomie<br />

von der Existenz und Anerkennung von ethnischen<br />

2 Europäische Staaten mit weniger als 1 Million Einwohner: Andorra,<br />

Zypern, Island, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Monaco,<br />

Montenegro, San Marino und der Vatikan.<br />

3 In der Russischen Föderation (2005 nach Bevölkerung mit 143<br />

Millionen der größte europäische Staat) sind 45 ethnische Minderheiten<br />

offiziell anerkannt.<br />

bzw. nationalen Minderheiten abgeleitet worden, die<br />

Träger von kollektiven Gruppenrechten sind.<br />

In der Nachkriegszeit hat das im Rahmen der VN<br />

entwickelte Rechtssystem den Schwerpunkt allerdings<br />

auf die individuelle Dimension der Menschenrechte<br />

gelegt, die als universeller Standard etabliert<br />

worden sind. 4 Erst nach der Entkolonisierung, nach<br />

dem Zusammenbruch des Sowjetblocks und der<br />

Zunahme von innerstaatlichen Konflikten, die aus der<br />

Missachtung von Minderheiten aller Art herrühren,<br />

hat die internationale Gemeinschaft verstärkte<br />

Aufmerksamkeit auf die kollektive Dimension der<br />

Minderheitenrechte gelegt. Die Rechte ethnischer<br />

Minderheiten sind Teil grundlegender Menschenrechte<br />

zum Schutz der Menschenwürde gegenüber dem Staat.<br />

Doch im Unterschied zu den klassischen individuellen<br />

Menschen-rechten gibt es Minderheitenrechte, die<br />

aufgrund ihrer Natur und rechtlichen Festschreibung<br />

nur kollektiv oder gemeinschaftlich ausgeübt werden<br />

können, wie z. B. religiöse und kulturelle Tätigkeiten,<br />

die Bildungsmöglichkeiten, der Sprachgebrauch im<br />

öffentlichen Dienst, das Recht auf Information. Wie<br />

können „nicht-titulare“ Minderheitengruppen in einem<br />

Staat mit einer anderen Titularnation in den vollen<br />

Genuss dieser Rechte kommen?<br />

Die meisten gewaltsam ausgetragenen Konflikte<br />

sind auf die Rolle des Staates in der <strong>Gesellschaft</strong><br />

zurückzuführen, der mächtigsten Organisation in<br />

nahezu allen Ländern der Erde. 5 Die Kontrolle des<br />

Staatsapparats verschafft Zugang zu sozialem Status<br />

und zu politischer Macht und regelt die Verteilung<br />

wichtiger wirtschaftlicher und finanzieller Ressourcen.<br />

Daraus entsteht ein permanenter Wettbewerb um<br />

die Kontrolle staatlich gebotener Möglichkeiten der<br />

Machtausübung. Die unvermeidlichen Konflikte können<br />

durch eine gerechtere Verteilung von Ressourcen,<br />

durch rechtlich abgesicherte Chancengleichheit, durch<br />

Anerkennung von Minderheitenrechten zur Vertretung<br />

und Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen an der<br />

4 Es gibt eine ganze Reihe hervorragender Datenbanken bezüglich<br />

Minderheitenrechte, wovon hier nur vier genannt werden sollen:<br />

http://www.eurac.edu/miris: das Informationssystem <strong>für</strong> das Minderheitenrecht<br />

der Europäischen Akademie Bozen; http://<br />

www.eblul.org: das Europäische Büro <strong>für</strong> Sprachminderheiten;<br />

http://www.coe.int/T/E/human_rights/minorities: Minderheitenabteilung<br />

des Europarats; http://www.ecmi.org: das Europäische<br />

Zentrum <strong>für</strong> Minderheitenrechte ECMI in Flensburg.<br />

5 In einigen Ländern (“gescheiterte” Staaten) wie z.B. Somalia<br />

oder Westsahara besitzt der international anerkannte Staat keine<br />

Kontrolle über den größeren Teil seines Territoriums. Einige andere<br />

Staaten haben kleinere Teile ihres Gebiets nicht unter ihrer Kontrolle<br />

(Kolumbien, Myanmar/Burma, Georgien, Moldawien, Aserbaidschan,<br />

Zypern). Laufende bewaffnete Konflikte sind zu entnehmen<br />

aus: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_ongoing_conflicts

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