Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
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der Sozialhilfe und Nahrungsmittellieferungen von<br />
außen, begleitet von Demütigung und Erpressung.<br />
Die endgültige Assimilierung der verbliebenen<br />
Indianerkulturen wurde den christlichen Kirchen<br />
anvertraut, indem alle Reservate nach einem<br />
komplizierten Schlüssel den verschiedenen Kirchen<br />
zwecks „Evangelisierung“ zugeteilt wurden. Dasselbe<br />
Muster wiederholte sich im 20. Jahrhundert, als USamerikanische<br />
Kirchen viele Regionen Lateinamerikas<br />
zu „evangelisieren“ versuchten. Ende des 19.<br />
Jahrhunderts startete die US-Bundesregierung einen<br />
neuen Anlauf zur Assimilierung der Indianervölker, indem<br />
das bisher kollektive Landeigentum in Privateigentum<br />
umgewandelt werden sollte. Diese Form der Absorption<br />
des kommunitären indianischen Landbesitzes und<br />
ihrer Wirtschaftsweise traf die Lebensgrundlagen der<br />
Ureinwohnervölker. Mit dem „General Allotment Act“<br />
(Allgemeines Zuteilungs- bzw. Parzellisierungsgesetz)<br />
1887 wurde die Privatisierung zur Leitlinie der<br />
US-Indianerpolitik. Aus Regierungsperspektive<br />
konnte erst die volle Transformation der Indianer in<br />
individuelle Landbesitzer und Farmer, die Auflösung<br />
des kommunitären Grundbesitzes und der Reservate<br />
die letzten Hindernisse auf dem Weg zu Fortschritt<br />
und Zivilisation wegräumen. Das reale Interesse des<br />
weißen Amerika lag natürlich nicht in der Wohlfahrt der<br />
Indianer, sondern in der Aneignung ihrer Ländereien.<br />
In den folgenden 50 Jahren verloren die Ureinwohner<br />
nochmals 60% der ohnehin schon sehr geschrumpften<br />
Territorien, die ihnen noch 1887 gehört hatten.<br />
Das Parzellisierungsgesetz sah vor, dass die Indianer<br />
als neue Privateigentümer des ihnen zugeteilten<br />
Landes diese Grundstücke erst nach 25 Jahren frei<br />
veräußern oder andere Grundstücke kaufen konnten.<br />
Nach der Privatisierung und Zuteilung des Landes<br />
waren die neue indianischen Eigentümer voll der Steuer<br />
unterworfen und erhielten die US-Staatsbürgerschaft.<br />
In diesem 1906 gestarteten Prozess wurden die<br />
Indianer gezwungen, die wertvollsten Teile ihres Landes<br />
zu veräußern. Doch der größte Teil des Einkommens<br />
wurde in gesperrten BIA-Konten angelegt, wo sie<br />
zusammen mit dem Zinserlös zur Finanzierung der<br />
kulturellen Assimilation verwendet wurden.<br />
So schwerwiegend seine Auswirkungen auch waren,<br />
am Ende erreichte das Parzellisierungsgesetz sein<br />
Ziel, die Indianer in Farmer auf ihrem privaten Grund<br />
zu verwandeln, doch nicht. Der Großteil der Indianer<br />
verzichtete nicht auf die Jagd, doch ihre Lebenslage<br />
verschlechterte sich immer mehr: extreme Armut, hohe<br />
Analphabetenrate, hohe Kindersterblichkeit, schlechte<br />
4 Besondere Formen von Autonomie<br />
Gesundheitsversorgung und prekäre Wohnbedingungen<br />
prägten den Alltag der Indianergemeinschaften.<br />
So wurde 1934 mit dem „Indian Reorganization<br />
Act“ die Parzellisierung des Indianerlands gestoppt<br />
und Reformen zur Förderung der wirtschaftlichen<br />
Selbstversorgung und politischen und kulturellen<br />
Selbstverwaltung eingeleitet. Die Indianer erhielten<br />
das Recht zurück, ihre politischen Vertreter zu wählen<br />
und Lokalverwaltungen zu bilden. Klare Regeln <strong>für</strong><br />
die Reservatsverwaltung und eine eigene Polizei und<br />
Justiz wurden eingeführt. Diese Neuerungen führten<br />
zu einem konfliktbehafteten Parallelsystem zwischen<br />
traditionellen Institutionen und jenen Normen, die aus<br />
dem amerikanischen öffentlichen Recht übernommen<br />
wurden.<br />
Viele Ureinwohner erhielten 1924 die US-<br />
Staatsbürgerschaft dank des „Indian Citizenship Act“,<br />
das auch als Anerkennung der zahlreichen Teilnahme<br />
von Indianern in der US-Armee im 1. Weltkrieg gedacht<br />
war. Nur in Arizona mussten die Indianer bis 1948<br />
auf das Wahlrecht warten. Als nicht steuerpflichtige<br />
Personen waren Indianer trotz Staatsbürgerschaft bis<br />
1956 bei US-Kongresswahlen nicht wahlberechtigt.<br />
Während des New Deals der 30er und 40er Jahre<br />
erhielt ein Teil der Indianer Finanzmittel, um ihren<br />
Grund und Boden zurückzuerwerben, das sie in<br />
den Jahrzehnten zuvor erzwungenermaßen weißen<br />
Siedlern verkaufen mussten. In den 50er Jahren, nach<br />
dem Ende der Roosevelt-Ära, erfuhr die amerikanische<br />
Indianerpolitik eine Kehrtwende, als ein neues Gesetz,<br />
der „Termination Act“ von 1953 die endgültige Lösung<br />
der Indianerfrage ins Visier nahm. Demgemäß sollten<br />
die Indianer von der Abhängigkeit vom BIA befreit<br />
werden und gleichberechtigt mit den übrigen US-<br />
Bürgern leben. Zu diesem Zweck sollten die Reservate<br />
aufgelöst und der Sonderstatus der Indianer im<br />
US-Rechtssystem beendet werden. „Termination“<br />
in diesem Sinne musste als gleichbedeutend mit<br />
definitiver Assimilation aufgefasst werden, wodurch<br />
die US-Regierung jeder Verantwortung <strong>für</strong> die<br />
Ureinwohner enthoben worden wäre. Hunderte<br />
kleinerer Stämme wurden auf diese Weise assimiliert<br />
und verloren ihre letzte Autonomie und wirtschaftliche<br />
Eigenständigkeit. Die US-Regierung wollte damit<br />
nicht nur die Reservate auflösen, sondern mit einem<br />
„freiwilligen“ Umsiedlungsprogramm zu normalen<br />
Stadtbewohnern machen. Der Langzeit-Effekt dieses<br />
Programms war, dass heute eine knappe Mehrheit der<br />
rund zwei Millionen Indianer nicht mehr in Reservaten,<br />
sondern in amerikanischen Städten lebt.<br />
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