Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />
96<br />
3.3 Autonomie in Großbritannien<br />
3.3.1 Die britische devolution<br />
In Großbritannien kam regionale Autonomie erst<br />
1998 zum Tragen, als drei Gesetze zur devolution<br />
(wörtlich „Übertragung“) vom Londoner Parlament<br />
verabschiedet wurden: der Scotland Act, der<br />
Government of Wales Act und der Northern Ireland<br />
Act. Es gibt verschiedene Gründe <strong>für</strong> die Gewährung<br />
von Autonomie an drei der vier Länder, aus denen<br />
sich das Vereinigte Königreich zusammensetzt. Nur<br />
England hat bisher noch keinen besonderen Status<br />
und es gibt auch keinen Plan, die gesamte Architektur<br />
des Königreichs in einen „Staat der Autonomien“ nach<br />
spanischem Muster umzuwandeln. Der Prozess der<br />
devolution erlaubte Schottland und Wales, autonome<br />
Mitglieder des Königreichs zu werden. In Nordirland<br />
konnte der lange interethnische Konflikt mit dem sog.<br />
Karfreitagsabkommen von 1998 im Ansatz gelöst<br />
werden. Dieses Abkommen ließ die katholischen<br />
Parteien den Verbleib im britischen Verbund akzeptieren,<br />
doch nur mit der unmittelbaren Perspektive der<br />
Errichtung einer konkordanzdemokratisch verwalteten<br />
Autonomie und einer langfristigen Perspektive auf<br />
Ausübung des Selbstbestim-mungsrechtes. Dieses<br />
Autonomie-arrangement ist allerdings seit 2002 infolge<br />
der Probleme bei der Bildung einer gemeinsamen<br />
Regierung ausgesetzt.<br />
Im Grundansatz ist Großbritannien ein Einheitsstaat<br />
bestehend aus England, Schottland, Wales und<br />
Nordirland. Wales ist 1282 erobert und 1536 England<br />
einverleibt worden. Erst 1707 ist das bis dahin<br />
unabhängige Schottland mit England zum „Vereinten<br />
Königreich von Großbritannien“ zusammengefügt<br />
worden. Das „Vereinte Königreich von Großbritannien<br />
und Irland“ – Irland war 1800 annektiert worden –<br />
dauerte nur bis 1921, als der größere Teil Irlands sich<br />
daraus löste und die Republik Irland gründete. Obwohl<br />
es im britischen Archipel nur zwei größere Inseln gibt,<br />
hat die historische Entwicklung zur Bildung von vier<br />
historischen Nationen geführt, die seit Jahrhunderten<br />
bestehen. Diese geschicht-liche Entwicklung bildet<br />
den wesentlichen Grund <strong>für</strong> die Einführung von<br />
Regionalautonomie im Vereinten Königreich im Jahr<br />
1998. Die kulturelle und sprachliche Verschiedenheit<br />
in diesem Staat war durch eine von den Engländern<br />
dominierten Machtstruktur an den Rand gedrängt<br />
worden. Doch vermochten die früher überwiegend<br />
keltischen Regionen mit Ausnahme von Cornwall und<br />
der Insel Man ihre kulturelle Substanz zu erhalten.<br />
Nach dem 2. Weltkrieg war Großbritannien noch ein<br />
zentralistischer Staat mit Englisch als einziger offizieller<br />
Sprache und Westminster als einzigem Parlament.<br />
Nach Jahrzehnten der Vernachlässigung gewannen<br />
die Minderheitensprachen wieder an Boden zurück<br />
und immer mehr Menschen betrachteten sich heute<br />
als Waliser, Schotten, Iren und Engländer eher denn<br />
als „Briten“. Die kulturelle Renaissance speiste<br />
Vorschläge und Forderungen <strong>für</strong> einen Ausbau der<br />
Selbstverwaltung, vor allem im katholischen Irland,<br />
dessen Drang nach Unabhängigkeit am stärksten<br />
war. Nach der Ausrufung der Republik Irland 1921 auf<br />
der geteilten Insel erhielt Nordirland erst 1972 einige<br />
Selbstverwaltungsbefugnisse unter dem Etikett einer<br />
allgemein gefassteren „devolution“. Doch das System<br />
scheiterte, da es die inneren Gegensätze Nordirlands<br />
nicht berücksichtigte und der Mehrheitspartei die<br />
Macht überließ, die nur die protestantische Mehrheit<br />
Nordirlands vertrat. Die andauernde Diskriminierung<br />
der katholisch-irischen Bevölkerung und der Konflikt<br />
zwischen unionistischen Prote-stanten und Irlandorientierten<br />
Katholiken ließen diese „Autonomie“<br />
scheitern. Von 1972 bis 1998 wurde Nordirland<br />
daraufhin direkt von London aus regiert.<br />
In den 60er Jahren verbreitete sich die Idee der<br />
devolution auch in Schottland und Wales, wo sich<br />
starke regionalistische Bewegungen entwickelten.<br />
Ein erster Schritt zu mehr Autonomie <strong>für</strong> diese<br />
historischen Regionen Großbritanniens wurde 1978<br />
gesetzt, doch in den Volksabstimmungen fanden die<br />
Autonomievorschläge noch keine Mehrheit bei der<br />
Bevölkerung. Das entsprechende Gesetze konnte<br />
nicht in Kraft treten. Devolution war damals konzipiert