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Moderne Autonomiesysteme - Gesellschaft für bedrohte Völker

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<strong>Moderne</strong> <strong>Autonomiesysteme</strong><br />

Auf der anderen Seite kritisieren Verteidiger von<br />

Einheitsstaaten, dass Autonomie die staatliche<br />

Einheit aushöhlt und eine kollektive ethnische<br />

Identität konsolidiert, die früher oder später in<br />

Sezessionsforderungen mündet. 100 Sorgsam gepflegte<br />

ideologische Vorstellungen von „heiliger Souveränität“<br />

und der Einheit des Vaterlands stehen im Vordergrund,<br />

doch harte Interessen an der Kontrolle und Nutzung<br />

eines Territoriums, seiner Ressourcen und seiner<br />

militärischen Bedeutung stehen dahinter. In solchen<br />

Fällen treffen divergierende Auffassungen von Staat<br />

aufeinander und anscheinend unüberwindliche<br />

Gräben scheinen <strong>Völker</strong> zu trennen, die im selben<br />

Staat zusammenleben. Wenn z.B. eine durch starke<br />

politische Gruppen artikulierte Mehrheit den Staat als<br />

eine Struktur begreift, die vor allem die Vorherrschaft<br />

dieser Gruppe konsolidieren und ausbauen soll, ist die<br />

Teilung der Macht mit Minderheitengruppen und die<br />

Neuverteilung der Ressourcen im Zuge von Autonomie<br />

oder asymmetrischem Föderalismus inakzeptabel.<br />

Dies geschieht heute in Sri Lanka, in der Türkei und in<br />

Burma. In diesen Fällen sind Kompromisse hinsichtlich<br />

Autonomie besonders schwierig, zumal ein Bruch mit<br />

einer traditionsreichen, breit verwurzelten Staatsideologie<br />

und bestimmten Verfassungs-prinzipien<br />

seitens der Machteliten des Staates vonnöten wären.<br />

Die Angst vor Autonomie als ein erster Schritt zur<br />

Sezession ist dann besonders ausgeprägt, wenn<br />

ein Minderheitsvolk in seinem angestammten<br />

Gebiet in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner<br />

Schutzmacht lebt wie z.B. Kaschmir und Pakistan,<br />

Tamil Eelam und Tamil Nadu, Türkisch-Kurdistan und<br />

Irakisch-Kurdistan. Bilaterale staatliche Abkommen<br />

könnten diesen Konflikt entspannen, wobei einseitige<br />

Grenzveränderungen ausgeschlossen werden können.<br />

In allen realen Konstellationen müssen die Folgen der<br />

Verweigerung von Autonomie mit den Vorteilen von<br />

Autonomie <strong>für</strong> die Stabilität und Zusammenarbeit mit<br />

dem Nachbarstaat abgewogen werden.<br />

„Führungskräfte in Regierungen“, meint Yash<br />

Ghai, „be<strong>für</strong>chten, dass Autonomie die Ausübung<br />

der Schlüsselfunktionen eines Staates behindert.<br />

Autonomie könne die wirtschaftliche und administrative<br />

Effizienz in Frage stellen aufgrund der Komplexität<br />

und Verdoppelung von Verwaltungsinstitutionen.<br />

Autonomie führt unvermeidlicherweise zu einer<br />

Philippinen, und die Bewegung der Kanaken auf Neukaledonien.<br />

100 Dies ist die Auffassung von Svante E. Cornell (2002) in: Autonomy<br />

as a Source of Conflict: Caucasian Conflicts in Theoretical<br />

Perspective, World Politics, volume 54, n. 2, Januar 2002, S. 245-<br />

276<br />

Steigerung der Verwaltungskosten (auch wenn es in<br />

der Realität Effizienzgewinne gibt, wie sie die Theorie<br />

der Dezentralisierung annimmt). Autonomie kann auch<br />

die Wirtschaftssphäre berühren, insbesondere wenn<br />

regionale Steuern, Präferenzen <strong>für</strong> lokales Kapital und<br />

Beschränkungen der Mobilität der Arbeit eingeführt<br />

werden. Autonomie kann die Umverteilungsaufgaben<br />

des Staates beeinträchtigen und so die Legitimation<br />

der Autonomie selbst in Frage stellen“. 101<br />

Ein funktionaler Vergleich der heute rund 60<br />

bestehenden <strong>Autonomiesysteme</strong> könnte diese Theorie<br />

empirisch prüfen aber auch ihr Gegenteil belegen.<br />

Doch sollte in einer solchen Art von Betrachtung der<br />

Hauptzweck von Autonomie nicht vergessen werden:<br />

nicht ökonomische oder administrative Effizienz eines<br />

Staats ist das Hauptkriterium, sondern die Achtung<br />

der individuellen und kollektiven Menschen-rechte<br />

und Minderheitenrechte.<br />

Ein weiteres gängiges Argument, das von Zentralstaaten<br />

gegen Autonomie ins Feld geführt wird, besteht in der<br />

„Domino-Theorie“: wenn Autonomie einmal <strong>für</strong> eine<br />

Region und eine Minderheit eingeführt wird, würde<br />

demnach eine endlose Reihe von Autonomieforderungen<br />

aus allen Ecken des Staates losgetreten. Dieses<br />

Argument wird vor allem in multinationalen Staaten<br />

wie Indien, Nigeria, Indonesien und Burma/Myanmar<br />

den Selbstbestimmungsbewegungen entgegnet, aber<br />

auch von der russischen Regierung zur Rechtfertigung<br />

ihrer Tschetschenien-Politik. Es muss im Licht der<br />

historischen Fakten erst gründlich geprüft werden,<br />

doch in der übergroßen Mehrheit der 20 Staaten mit<br />

funktionierenden Territorialautonomien lässt sich<br />

keine „Welle der Nachahmung“ feststellen. Wiederum<br />

sei betont: in jedem Minderheitenkonflikt ist die<br />

rechtliche, politische und moralische Legitimation<br />

einer Autonomieforderungen abzuwägen mit der<br />

Legitimation des Zentralstaats, ein Maximum an<br />

Macht auf zentraler Ebene zu halten, wobei seine<br />

Souveränität und Grenzen gar nicht in Frage gestellt<br />

werden.<br />

Ein häufiger Einwand bezieht sich auf die Schaffung<br />

von neuen ethnisch definierten Minderheiten innerhalb<br />

autonomer Regionen, die sozialer oder rechtlicher<br />

Diskriminierung ausgeliefert sein könnten. Diese Art<br />

von Kritik stammt aus einer Sicht der Menschenrechte,<br />

die bei der Anerkennung von Gruppenrechten die<br />

Gefahr der Diskriminierung von Individuen derselben<br />

Region in den Vordergrund stellen, die nicht zu diesen<br />

Gruppen gehören. Doch auch Wissenschaftler, die<br />

101 Yash Ghai (2000), 499

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