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Umwelt und Straßenverkehr

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Neuausrichtung der Verkehrspolitik wird angesichts der<br />

vielfältigen Widerstände nur dann Aussichten auf Erfolg<br />

haben, wenn aus der Sicht einer überwiegenden Mehrheit<br />

der Verkehrsteilnehmer eine mit dieser Neuorientierung<br />

verknüpfte andere Mobilitätskultur insgesamt langfristig<br />

einen „Nutzen“ oder einen Zugewinn an Lebensqualität<br />

verspricht. Die ins Auge gefasste neue Strategie <strong>und</strong> die<br />

vom BMU mit guten Gründen geforderte „Offensive für<br />

eine neue Mobilitätskultur“ (BMU, 2003, S. 20) darf daher<br />

verbreitete Wertvorstellungen nicht ignorieren, sondern<br />

muss an sie anknüpfen können.<br />

145. Weit verbreitet ist auch das Bedürfnis nach Verkehrssicherheit.<br />

Diese Wertschätzung zeigt sich an der<br />

stark verbesserten Sicherheitstechnik des einzelnen PKW,<br />

aber auch an Forderungen nach Geschwindigkeitsbeschränkungen<br />

in Wohngebieten, nach Ausbau von<br />

Fahrradwegen, nach Ampelanlagen auf Schulwegen usw.<br />

Höhere Sicherheit insbesondere für die Gruppen schwächerer<br />

Verkehrsteilnehmer (Kinder, Fußgänger, Fahrradfahrer),<br />

die vom so genannten Risikotransfer der Autofahrer<br />

negativ betroffen sind, ist darüber hinaus eine<br />

berechtigte moralische Forderung (BMU, 2003, S. 4; s. a.<br />

Kap. 5.5). Andere Wertvorstellungen manifestieren sich<br />

in Forderungen nach Verkehrsberuhigung. Verkehr wird<br />

häufig zwar nicht als direkt ges<strong>und</strong>heitsbedrohlich, aber<br />

vielfach als belästigend oder störend empf<strong>und</strong>en<br />

(Abschn. 2.1.3). Werte wie „Fitness“, „Ges<strong>und</strong>heit“ <strong>und</strong><br />

„Erfahrungsintensität“ (HOLZAPFEL, 1998, S. 54)<br />

sprechen bei kurzen Strecken für die Benutzung des Fahrrades,<br />

das übrigens mittlerweile auch über eine Symboldimension<br />

verfügt („Sportlichkeit“). Der entfernungsintensive<br />

Lebensstil wird zunehmend auch als „Stress“ <strong>und</strong><br />

Belastung empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> bei einigen Autoren durch Vorstellungen<br />

einer neuen Sesshaftigkeit (MEYER-ABICH,<br />

1997, S. 399 ff.), Muße (SCHINKEL, 2003) oder eines<br />

durch Entschleunigung beförderten Zeitwohlstandes abgelöst<br />

(REHEIS, 1998). Werte wie Sicherheit, Ges<strong>und</strong>heit,<br />

„Stressarmut“, „Entschleunigung“, „Zeitsouveränität“<br />

usw. gewinnen durchaus an Bedeutung (BEUTLER<br />

<strong>und</strong> BRACKMANN, 1999, S. 45). Bezogen auf Leitbilder<br />

der Verkehrspolitik bedeutet dies, dass die weitere<br />

Beschleunigung nicht das oberste Ziel der Verkehrspolitik<br />

sein sollte. Auch Entschleunigung könnte demnach ein<br />

Ziel von (mutiger) Verkehrspolitik sein. So könnte man<br />

bspw. überlegen, ob der MIV in Wohngebieten konsequent<br />

„entschleunigt“ werden sollte. Es könnte auch deutlich<br />

gemacht werden, dass ein engpassfreies Verkehrssystem,<br />

das einen flüssigen Verkehr mit hoher<br />

Geschwindigkeit gewährleistet, eine Illusion ist.<br />

146. Die Fixierung auf das Automobil verliert mittlerweile<br />

in vielen Segmenten der Gesellschaft allmählich an<br />

Wertschätzung gegenüber einem flexiblen <strong>und</strong> variablen<br />

Umgang mit unterschiedlichen Verkehrsträgern. Personen<br />

mit einem diversifizierten Mobilitätsverhalten <strong>und</strong> der<br />

Bereitschaft, Alternativen auszuprobieren <strong>und</strong> Flexibilität<br />

im Umgang mit Mobilitätsproblemen einzuüben, könnten<br />

bei sich verändernden Anerkennungsverhältnissen als<br />

„Mobilitätspioniere“ höhere Anerkennung finden. Personen,<br />

die häufig verschiedene Verkehrsmittel nutzen,<br />

können zudem das Verkehrsgeschehen nicht nur aus der<br />

Paradigma des unbegrenzten Verkehrswachstums<br />

Perspektive des PKW-Fahrers wahrnehmen. Durch die<br />

dadurch bewirkte intuitive Perspektivenübernahme,<br />

durch veränderte Anerkennungsverhältnisse <strong>und</strong> durch<br />

diversifizierte Mobilitätsprofile könnten sich auch die<br />

Akzeptanzbedingungen für den Einsatz restriktiv wirkender<br />

verkehrspolitischer Instrumente verbessern <strong>und</strong> die<br />

Fragen nach Grenzen <strong>und</strong> Maß der Geschwindigkeit auf<br />

zunehmendes Verständnis stoßen.<br />

147. In den sich verändernden Wertvorstellungen <strong>und</strong><br />

Leitbildern sind insofern durchaus vielfältige Anknüpfungspunkte<br />

für eine andere Verkehrskultur <strong>und</strong> -politik<br />

vorhanden. Ohne Einbettung in eine Gesamtstrategie<br />

(Vision, Leitbild) wiederum lassen sich einzelne Maßnahmen<br />

gegenüber der Öffentlichkeit nicht rechtfertigen.<br />

Eine neue verkehrspolitische Gesamtstrategie sollte bei<br />

positiv besetzten Vorstellungen von Lebensqualität ansetzen<br />

(BECKER, 2003). Diesen neuen Werten stehen moralische<br />

Einstellungen wie Gelassenheit, Fairness <strong>und</strong><br />

Rücksichtnahme auf Schwächere nahe (s. Kap. 5.5).<br />

148. Gerade in der aktuellen Debatte um die vielfache<br />

Überschreitung der europäischen Luftqualitätswerte für<br />

Partikel wird deutlich, dass zur Erreichung von Qualitätszielen,<br />

in denen sich die genannten Werte widerspiegeln,<br />

gelegentlich sogar Verkehrsbeschränkungen als unausweichlich<br />

angesehen werden. Hier deutet sich ein neuer<br />

umweltpolitischer Steuerungsansatz an, der auf der Basis<br />

von <strong>Umwelt</strong>qualitäts- <strong>und</strong> Naturschutzzielen mit Rechtswirksamkeit<br />

ein breites Maßnahmenbündel von technischen<br />

Vorgaben bis hin zu Verkehrsbeschränkungen auslöst.<br />

Hierzu gehören Qualitätsstandards für Luft <strong>und</strong><br />

Lärm, sektorbezogene <strong>Umwelt</strong>ziele, insbesondere im Bereich<br />

des Klimaschutzes oder die besondere Ausweisung<br />

schützenswerter oder besonders sensibler Regionen oder<br />

Korridore. Diese schaffen für die Verkehrsentwicklung<br />

zumindest punktuelle Engpässe (vgl. ECIS, 1996). Die<br />

Anpassung an solche Engpässe erfordert fallbezogen die<br />

Kombination von technischen, planerischen oder verkehrslenkenden<br />

Maßnahmen. Da sich die Probleme <strong>und</strong><br />

auch die Problemlösungen insbesondere in den Kommunen<br />

<strong>und</strong> Ballungsräumen verdichten, sollten vor allem deren<br />

Kapazitäten <strong>und</strong> Kompetenzen gestärkt werden (vgl.<br />

Kap. 8.2, 9.1 <strong>und</strong> Abschn. 9.3.2.2). Bereits heute wird es<br />

weithin anerkannt, dass sich das Verkehrsgeschehen in<br />

Ballungsräumen den örtlichen Gegebenheiten <strong>und</strong> gewachsenen<br />

Stadtstrukturen anpassen muss – <strong>und</strong> nicht<br />

umgekehrt (GOODWIN, 1996).<br />

Politisch hat der direkte Qualitätszielbezug bessere Vermittlungschancen<br />

als die generellen Verkehrsstrategien<br />

(vgl. Kap. 6). Die „Verkehrswende“ ist auch deshalb politisch<br />

gescheitert (vgl. SCHMIDT et al., 2004), weil sie<br />

sich zu stark gegen den Autoverkehr gerichtet hat <strong>und</strong> den<br />

<strong>Umwelt</strong>nutzen nicht genügend vermitteln konnte. Eine<br />

verkehrsbezogene <strong>Umwelt</strong>politik stellt hingegen die konkret<br />

betroffenen Schutzgüter <strong>und</strong> Werte, wie menschliche<br />

Ges<strong>und</strong>heit, Erholung, Lebensqualität, die psychische<br />

Entwicklung von Kindern, konkurrierende Nutzungen<br />

<strong>und</strong> den Klimaschutz in den Mittelpunkt der Debatte um<br />

eine andere Mobilitätskultur. Solche Schutzgüter haben in<br />

der Abwägung einen mindest so hohen Stellenwert, wie<br />

der schnelle <strong>und</strong> engpassfreie Verkehr.<br />

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