Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)

372 Kurt Steinhaus
und Metallindustrie) und einigen kleineren gewerkschaftlich organisierten
Streiks (z. B. der Seeleute und der Beschäftigten der Schleifmittelindustrie),
auf die im Kähmen dieser Ausführungen nicht weiter
eingegangen werden kann, sah das Jahr 1972 auch zwei sehr bedeutende
Kampfaktionen, die nicht in Vergessenheit geraten sollten.
Sie seien im folgenden kurz dargestellt. Die erste und wichtigste dieser
Kampfaktionen hat in der amtlichen Statistik, die für das betreffende
zweite Quartal 1972 lediglich drei Streiks mit 2573 Teilnehmern
aufführt, überhaupt keinen Niederschlag gefunden. Gemeint ist
jene Kette von Streiks und sonstigen Protestbekundungen, mit denen
die Arbeiterklasse der BRD die Ratifizierung der Verträge von
Moskau und Warschau unterstützte 12 : Nach der Unterzeichnung der
Verträge versuchten die CDU/CSU und andere reaktionäre Kräfte,
wenigstens die Ratifizierung zu verhindern. Dies wäre durchaus
möglich gewesen, denn nach dem — durch vielfältige Abwerbungsmaßnahmen
geförderten Übertritt — mehrerer Bundestagsabgeordneter
der FDP und auch der SPD zur CDU/CSU hatte die Brandt/
Scheel-Regierung ihre parlamentarische Mehrheit verloren. Jetzt
wollte man der für den Mai angesetzten Ratifizierungsdebatte durch
ein „konstruktives Mißtrauensvotum" zuvorkommen. Dieser Coup,
der die Ablösung der Brandt/Scheel-Regierung durch eine Strauß/
Barzel-Regierung bringen sollte, wurde für den 27. 4. angesetzt. —
Nur selten zuvor war die Politisierung der Bevölkerung, insbesondere
der Arbeiterklasse, der BRD größer gewesen als in jenen Tagen.
Millionen hatten begriffen, was auf dem Spiele stand: entweder
endlich Übergang zu einer Politik der friedlichen Koexistenz, zur
Anerkennung der in Europa bestehenden Realitäten oder erneute
Rückkehr zum Kalten Krieg. In dieser Situation kam der elementare
Wunsch der Werktätigen nach Frieden spontan in Form einer breiten
Bewegung zum Ausdruck. An drei Tagen, am 25., 26. und 27.
April, traten überall in der BRD Arbeiter in den Streik, fanden —
unter maßgeblicher Beteiligung der Arbeiterklasse — Demonstrationen
und Kundgebungen statt, wurden in den Betrieben Protestresolution
verabschiedet, um den geplanten Regierungssturz zu
verhindern. Während die rechten Kräfte („Ausverkauf der deutschen
Interessen") zusammen mit maoistischen Gruppen („Kriegspakt
Bonn-Moskau") eine letzte Kraftanstrengung unternahmen, um die
Verträge zu Fall zu bringen, gingen gleichzeitig Zehntausende von
Arbeitern und Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und Kommunisten
auf die Straße, warfen sie demonstrativ ihr Gewicht in die
Waagschale, um zu zeigen, daß sie nicht bereit waren, eine so gravierende
politische Entscheidung davon abhängig machen zu lassen,
wieviel Abgeordnete die Reaktion hatte kaufen können. — Die
Hauptkraft dieser Bewegung bildete die Arbeiterklasse, insbesondere
ihr Kern: die Industriearbeiter in den Großbetrieben. Hauptzentren
der Aktionen, vor allem der Streiks, waren die großen Industriestädte
an Rhein und Ruhr. In zahlreichen Werken der Me-
12 Zu diesen Aktionen vgl. Gewerkschafts-Spiegel, Nr. 10/1972, S. 27 ff.;
Nachrichten, Nr. 5/1972, S. 2 f.; Unsere Zeit, Extrablatt, 1. 5. 1972.