Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)

Streikkämpfe iri der BRD 1971 bis 1974 403
während der Sommerstreiks 1973 vorherrschenden Forderungen nach
Teuerungszulagen einen anderen Charakter gehabt als „normale"
Lohnforderungen. Die Forderungen nach Teuerungszulagen bezogen
sich bereits unmittelbar auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung.
Und die Diskussionen und Argumente, aus denen heraus sich diese
Forderungen entwickelt haben, waren ebenfalls unmittelbar durch
solche gesamtwirtschaftlichen Kennziffern und Begriffe wie Preisentwicklung,
Profitentwicklung, Steuerprogression und Reallohnsenkung
bestimmt. Dies war ebenso der Fall in der Vorbereitung der
Tarifrunden des öffentlichen Dienstes und der Metallindustrie Ende
1973/Anfang 1974.
Das verhältnismäßig hohe Niveau der betrieblichen und gewerkschaftlichen
Diskussionen an der Basis ergab sich auch dadurch, daß
das Zusammenspiel zwischen sozialdemokratisch geführter Bundesregierung
und Großkapital so eindeutig war, daß es insbesondere für
viele aktive Gewerkschafter kaum noch zu übersehen war. Gerade
die konkrete politische Konstellation im Sommer 1973 und Anfang
1974 hat so oft zu tieferen Einsichten über das staatsmonopolistische
Gesellschaftssystem geführt und in der Tendenz die Desillusionierung
über die sozialdemokratische Führung verstärkt. — In diesem
Zusammenhang sei ausdrücklich auf die außerordentliche Bedeutung
der Tatsache verwiesen, daß der Druck der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft
die Gewerkschaftsführungen in jüngster Zeit dazu gezwungen
hat, stärker als früher die Interessen der Arbeiterklasse
auch gegen eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung zu
verteidigen: Die Tarifabschlüsse der Jahreswenden 1971/72 und
1972/73 waren noch dadurch gekennzeichnet, daß die Gewerkschaftsführungen
den Appellen der Regierung im wesentlichen Folge leisteten.
Insbesondere die letzte Tarifrunde läßt jedoch erkennen, daß
die sozialpartnerschaftliche Strömung in den Gewerkschaften einen
Rückschlag erlitten hat. Zwar ist die Rücksichtnahme auf die Bundesregierung
noch immer ein starkes Hemmnis der gewerkschaftlichen
Tarifpolitik, aber eine stärkere Orientierung auf die Interessen
der Arbeiter und Angestellten ist doch unverkennbar.
Von einer größeren Tiefe der Bewegung muß auch in bezug auf
den Inhalt einiger Forderungen gesprochen werden, die während der
Sommer-Streiks 1973 in mehreren Betrieben von den ausländischen
Arbeiterinnen und Arbeitern erhoben wurden. Diese Forderungen
betrafen nicht nur einfach die Höhe des Lohns, sondern richteten sich
ausdrücklich auf die lohnmäßige Gleichberechtigung mit den deutschen
Kollegen. Oft umschlossen sie auch darüber hinaus einen verhältnismäßig
breiten Bereich ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen.
Erinnert sei an die Forderungen nach Verringerung der Bandgeschwindigkeit,
nach Beseitigung entwürdigender Pausenregelungen
und sogar nach dem Wegfall von Sonderschichten (Überstunden).
Auch die Forderung nach Verlängerung ihres Urlaubs, wie sie in
letzter Zeit mehrfach von ausländischen Arbeitern erhoben wurden,
hat einen ziemlich umfassenden Inhalt. Denn die Hin- und Rückreisezeiten
z. B. für türkische Arbeiter, die oft aus ländlichen Gebie-