Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)
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Wie kann sich das Subjekt literarisch entfalten? 439<br />
tische Ohnmacht nicht mehr verwun<strong>der</strong>t 8 . Man versteht jetzt auch,<br />
warum Lenzens Vorschläge zur pädagogischen Praxis, entgegen se<strong>in</strong>er<br />
eigenen For<strong>der</strong>ung nach Alternativen, so vag bleiben und warum<br />
se<strong>in</strong>e Kritik heutiger Kreativitätsprogramme nur <strong>der</strong>en technizistische,<br />
nicht aber <strong>der</strong>en schlecht psychologische Variante („abstrakte<br />
Sensibilisierung") erfaßt.<br />
In beson<strong>der</strong>er Ausformung präsentiert sich dies Problem, wenn<br />
man nun das, was Lenzen gegen den „Abriß" (und e<strong>in</strong> wenig auch<br />
nur apropos des „Abrisses") entwickelt, tatsächlich auf dessen<br />
Gegenstand Literaturproduktion anwendet. Die relative Leere des<br />
Lenzenschen Phantasiebegriffs offenbart sich hier sofort, wenn man<br />
ihn z. B. mit <strong>der</strong> noch immer nützlichen Bestimmung <strong>der</strong> künstlerischen<br />
Phantasie durch Hegel vergleicht: Auch Hegel bezeichnet Phantasie<br />
als die „hervorstechend künstlerische Fähigkeit", zählt ihr aber<br />
dabei e<strong>in</strong>erseits „die Gabe und den S<strong>in</strong>n <strong>für</strong> das Auffassen <strong>der</strong> Wirklichkeit"<br />
und das „aufbewahrende Gedächtnis", an<strong>der</strong>erseits die Fähigkeit<br />
zur „Ine<strong>in</strong>an<strong>der</strong>arbeitung des vernünftigen Inhalts und <strong>der</strong><br />
realen Gestalt" h<strong>in</strong>zu 7 . Er bestimmt sie, mit an<strong>der</strong>en Worten, generell<br />
als Auffassen von Möglichkeiten im Vorhandenen, nicht als bloßes<br />
Wünschen o<strong>der</strong> Erf<strong>in</strong>den; als konkret künstlerische aber sieht er<br />
sie auch produktionsgerichtet: nämlich nicht nur als Fähigkeit<br />
zum möglichst unvermittelten E<strong>in</strong>fall, son<strong>der</strong>n als die zu qualitativ<br />
besseren Problemlösungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kunst 8 . In Lenzens Beitrag h<strong>in</strong>gegen<br />
wird <strong>der</strong> Satz, Phantasie verknüpfe „S<strong>in</strong>neserfahrungen zu neuartigen<br />
Vorstellungen" (224), als Reduktion <strong>der</strong> Phantasie zum „Datenpuzzle"<br />
verzerrt — so, als wäre von „S<strong>in</strong>nesdaten" und „artigen<br />
Vorstellungen" die Rede gewesen; das Konstatieren dessen wie<strong>der</strong>um,<br />
daß literarisches „Wollen" die Reflexion auf die dem Wunsch<br />
angemessenen literarischen Mittel e<strong>in</strong>schließt, <strong>in</strong>terpretiert er als<br />
stetes Erheben von „For<strong>der</strong>ungen" an den „<strong>in</strong>neren Prozeß". Während<br />
man doch, nach Schönberg, e<strong>in</strong> Bild malt und nicht das, was<br />
6 Auch wenn man Freuds Pessimismus bezüglich <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>barkeit von<br />
„Lust- und Realitätspr<strong>in</strong>zip" nicht teilt, sollte e<strong>in</strong>em doch Freuds Analyse<br />
<strong>der</strong>, wie er me<strong>in</strong>te, bei wohl allen Erwachsenen heute vorhandenen Tagträume<br />
und Phantasien zu denken geben. Freud bezeichnet sie als e<strong>in</strong>e<br />
„Ersatz- o<strong>der</strong> Surrogatbildung" <strong>für</strong> das aufgegebene k<strong>in</strong>dliche Spielen<br />
(cf. S. Freud, Gesammelte Werke, Bd. VII, S. 215: angesichts e<strong>in</strong>er Wirklichkeit,<br />
die „zur Bescheidung o<strong>der</strong> zur Geduldung mahnt" (a.a.O., Bd. XI,<br />
S. 387), wende sie sich von dieser ab und schaffe e<strong>in</strong>e unwirkliche Welt (cf.<br />
Bd. VII, S. 214) <strong>der</strong> Wunscherfüllung, die sich v. a. auf <strong>in</strong>fantile Wunschobjekte<br />
rückbeziehe (cf. Bd. II/III, S. 496). Diese Beschreibung müßte davor<br />
warnen, die psychische Reaktion des Phantasierens vorschnell mit <strong>der</strong><br />
zur Realitätsverän<strong>der</strong>ung drängenden, realistisch-antizipatorischen, <strong>der</strong><br />
„bewaffneten Phantasie" zusammenzubr<strong>in</strong>gen.<br />
7 G. W. F. Hegel, Ästhetik, Hrsg. F. Bassenge, Ffm. o. J., Bd. I, S. 275 f.<br />
8 Wozu E<strong>in</strong>fälle ohne solche Vermittlungen schrumpfen können, hält<br />
die Hitchcocksche Anekdote vom Drehbuchautor fest, <strong>der</strong> sich nachts e<strong>in</strong>e<br />
„ganz tolle Idee" notierte und morgens nur „Junge verliebt sich <strong>in</strong> Mädchen"<br />
auf dem Papier stehen hatte.