Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)

428 Klaus Dieter Lenzen
Emanzipation aller menschlichen Sinne und Eigenschaften. Aber sie
ist diese Emanzipation gerade dadurch, daß diese Sinne und Eigenschaften
menschlich, sowohl subjektiv als objektiv geworden sind
(...); erst durch den gegenständlich entfalteten Reichtum des menschlichen
Wesens wird der Reichtum der subjektiven menschlichen Sinnlichkeit,
wird ein musikalisches Ohr, ein Auge für die Schönheit der
Form, kurz, werden erst menschliche Genüsse fähige Sinne, Sinne,
welche als menschliche Wesenskräfte sich bestätigen, teils erst ausgebildet,
teils erst erzeugt." 14 — Die Rolle der Phantasie im Kapitalismus
steht zu dieser denkbaren Rolle der Phantasie im aufgehobenen
Kapitalismus in widerspruchsvollem Gegensatz. Denn im „Ghetto
(...), in das der Kapitalismus die Phantasie gesperrt hat" 16 , um sie
einerseits als Kraft zur Veränderung auszuschalten, blieb sie andererseits
schlecht aufgehoben, insofern sie, derart zur Wirkungslosigkeit
verurteilt, den Kapitalismus seinen Widersprüchen zugleich auch
näher brachte. Adorno kennzeichnete diese Tendenz im Kontext einer
Kritik am positivistischen Phantasieverbot: „Virtuell dürfte der
entgeistete Geist dadurch sich ad absurdum führen, daß er vor seinen
eigenen pragmatischen Aufgaben versagt. Die Diffamierung der
Phantasie: die Unkraft sich vorzustellen, was noch nicht ist, wird
Sand selbst im Getriebe der Apparatur, sobald sie mit Phänomenen
sich konfrontiert sieht, die in ihren Schemata nicht vorgesehen
sind." 16 Diese Prognose war im Augenblick ihrer Formulierung bereits
in Erfüllung gegangen. In kapitalistischen Staaten, zuerst in
Amerika, vollzog sich unter Anleitung des Kapitals der qualvolle,
durch didaktische Programme gestützte Wiederbelebungsversuch der
Phantasie in dem Augenblick, da man in Konkurrenz zum Sozialismus
die „Unkraft, sich vorzustellen, was noch nicht ist" (s. o.), negativ
zu spüren bekam. „Der Auftakt zum Wettrennen um die Erforschung
der Kreativität war ein technisches Ereignis, nämlich die Entsendung
des ersten Sputniks ins Weltall. Der Bedarf an kreativen Wissenschaftlern
brachte Staat und Industrie vor allem in Amerika dazu,
psychologische Untersuchungen zum Thema der Kreativität zu finanzieren
und zu fördern. Dieser Beginn stand unter dem Motto: um als
Nation zu überleben, muß das Individuum kreativ denken." 17 Die
menschliche Phantasie mußte zur instrumentalisierbaren Kreativität
moduliert werden, um kapitalistisch in Dienst genommen werden
zu können; eine Kategorie der Ästhetik 18 ging damit über an die
„Unternehmens-,Philosophie'" 19 , aus einer menschlichen Fähigkeit
14 K. Marx, F. Engels, Werke, Ergänzungsband I, S. 540 f.
15 P. Schneider, Die Phantasie im Spätkapitalismus und die Kulturrevolution,
in: Kursbuch 16/1969, S. 4.
16 Th. W. Adorno, Einleitung, a.a.O., S. 62.
17 E. Landau, Psychologie der Kreativität, München/Basel 1969, S. 9.
18 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, Suhrkamp Theorie
Werkausgabe Bd. 13, Frankfurt/M. 1970, S. 363 ff.
19 H. Schade, Grundsätze der Unternehmensführung — die Unternehmens-„Philosophie",
in: H. Schade (Hrsg.), Erfolgreiches Management.