Klassenkämpfe in der BRD - Instituts für kritische Theorie (InkriT)

404 Kurt Steinhaus
ten stammen, sind sehr lang; infolgedessen bleibt kaum Zeit für die
traditionellen Rundumbesuche bei den vielköpfigen Großfamilien in
der Heimat. Die Forderung nach Verlängerung des Urlaubs richtet
sich also gegen einen tiefen Eingriff der Unternehmer in traditionelle
Lebensgewohnheiten.
Die Bereitschaft der Arbeiterklasse, nicht nur für höhere Löhne,
sondern auch für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen,
wurde besonders anläßlich der Auseinandersetzungen um
einen neuen Lohnrahmen II in Baden-Württemberg deutlich. Daß
hier in einer Urabstimmung über 90°/o der organisierten Metallarbeiter
ihre Bereitschaft bekundeten, für solche Forderungen wie
Lohnabsicherung und Kündigungsschutz für ältere Kollegen oder
für bezahlte Pausen am Fließband zu kämpfen, ist zweifellos eine
bemerkenswerte Tatsache. Dies gilt ebenso für den von der Gewerkschaft
Holz und Kunststoff im Januar 1974 mit Hilfe eines Streiks
durchgesetzten neuen Manteltarifvertrag. In der Bundesrepublik ist
seit dem schleswig-holsteinischen Metallarbeiterstreik von 1956 für
Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nicht mehr für Forderungen diesèr
Qualität gekämpft worden. Offensichtlich gerät neben der Lohnfrage
mehr und mehr der ganze Komplex der Arbeits- und Lebensbedingungen
in das Blickfeld der Arbeiterklasse. Die Tatsache, daß
die Streiks im Sommer 1973 und Anfang 1974 auch ein wachsendes
Problembewußtsein für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge in
der Arbeiterklasse erkennen lassen, ergänzt dieses Bild. Die hierin
zum Ausdruck kommenden Entwicklungstendenzen sind außerordentlich
positiv zu bewerten. Die wachsende Tiefe der Bewegung
bietet neue Anknüpfungspunkte, eröffnet konkrete Möglichkeiten,
über den rein ökonomischen Kampf hinauszugehen und einen breiteren
Ausschnitt des kapitalistischen Ausbeutungssystems als veränderungsbedürftig
erkennbar zu machen.
Daß im übrigen unter ganz bestimmten Voraussetzungen die Arbeiterklasse
der BRD auch bereit ist, für die Durchsetzung politischer
Ziele zu kämpfen, haben ohnehin die letzten Jahre wenigstens
der Tendenz nach unter Beweis gestellt. Zu erwähnen sind hier
außer den Aktionen gegen den CDU/CSU-Versuch des Regierungssturzes
1972 auch die Streiks und Kampfaktionen gegen die Notstandsgesetze
sowie gegen die neofaschistische NPD. Hierzu zu rechnen
sind aber auch Aktionen gegen die Erhöhung von Verkehrstarifen
(„Roter Punkt") und gegen militärische Einrichtungen (ein
besonders gutes Beispiel sind die Aktionen gegen den Bombenabwurfplatz
bei Nordhorn 1973) wie gegen verschiedene „örtliche Mißstände"
(beispielsweise 1973 in Essen die Blockade der Eisenbahnlinie
Köln-Minden zur Erzwingung von'Sicherheitsmaßnahmen an einem
Bahnübergang), die unter aktiver Beteiligung der Arbeiterklasse geführt
wurden, sowie aufgrund ihres Inhalts und ihrer Form starke
politische Akzente und weit mehr als lokale Bedeutung hatten 15 .
15 Hierzu vgl. Jung, Schuster, Steinhaus, a.a.O., S. 900 ff.; Marxistische
Blätter, Nr. 6/1973, S. 106 ff.; Nr. 1/1974, S. 102 ff.