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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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sicht bewertet werden, welche Überzeugungskraft auf jeder dieser <strong>Interpretation</strong>sebenen<br />

und insgesamt erreicht wurde.<br />

5.6 Das Beispiel einer Biographie: Anna, 21 Jahre<br />

Die vorliegende Biographie ist von der Verfasserin, Katrin Trepte, nach Rücksprache<br />

mit Anna ausdrücklich für diesen Zweck freigegeben. Einige individuelle<br />

Kennzeichen wurden aus Gründen des Datenschutzes verändert.<br />

(1) Erhebungsbedingungen<br />

Das erste Mal bin ich Anna vor vier Jahren während eines Besuches in Mainz<br />

begegnet. Ich besuchte dort meine Freundin Birgit, die mir Anna damals als ihre<br />

Klassenkameradin vorstellte. Beide gingen zu dem Zeitpunkt, genau wie ich, in<br />

die zwölfte Klasse. Im Laufe der Oberstufe traf ich Anna immer im<br />

Zusammenhang mit Birgit; ich sah sie als Birgit Geburtstag feierte oder als<br />

Birgit Abiturball hatte, aber außer der gemeinsamen Freundin verband uns nicht<br />

viel. Nach dem Abitur zog es Anna zum Studium an die Pädagogische<br />

Hochschule in Freiburg und mich an die Universität Freiburg. Plötzlich lebten<br />

“wir” in der gleichen Stadt, und Birgit besuchte von da an ihre beiden “Freiburger<br />

Freundinnen”. Oftmals wenn Birgit in Freiburg war, unternahmen wir<br />

also etwas zu dritt. Und immer wenn wir etwas zu dritt unternahmen, wunderte<br />

ich mich, dass Birgit, wie ich es sonst von ihr kannte, keine Lust hatte, abends<br />

tanzen zu gehen. Als ich sie einmal diesbezüglich ansprach, nahm sie mich zur<br />

Seite, und rückte erst dann mit der Sprache heraus, als ich ihr versprochen hatte,<br />

Anna niemals das Gefühl zu geben, dass ich wüsste oder gemerkt hätte, was sie<br />

mir sagt. Daraufhin erzählte Birgit mir, dass Anna im Unterricht der Oberstufe<br />

einen epileptischen Anfall erlitten habe, und es für sie deshalb, um Unnötiges zu<br />

vermeiden, besser sei, sich dem Flackerlicht von Diskotheken nicht auszusetzen.<br />

Die gemeinsamen Unternehmungen mit Birgit führten in der Folge dazu, dass<br />

Anna und ich bald unabhängig von Birgit anfingen, uns in regelmäßigen Abständen<br />

zu verabreden. Das Versprechen, welches ich Birgit gegeben hatte, hielt ich in<br />

Gegenwart von Anna konsequent ein. Wir gingen ins Theater oder Kino. Irgendwann<br />

fragte mich Anna, ob ich “das mit ihr” eigentlich wüsste. Ich hatte zu diesem<br />

Zeitpunkt bereits das Gefühl, dass sie wusste, dass ich es weiß und sagte irgend<br />

etwas wie: “Ja, Birgit hat es mir erzählt.” Daraufhin unterhielten wir uns recht allgemein<br />

über ihre Krankheit, ohne näher auf ihren speziellen Fall einzugehen.<br />

Letzte Woche waren wir wieder im Theater und zwar in dem Stück “Das letzte<br />

Band” von Beckett. In dem Stück lauscht ein einsamer, alter Schriftsteller den<br />

Tonbändern, auf denen er seine Erlebnisse des vergangenen Jahres aufgezeichnet<br />

hat, und kommentiert diese Aufzeichnungen immer von neuem. Nach dem<br />

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