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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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Viele Ansätze der Text- und Inhaltsanalyse in der Psychologie und in den<br />

Sozialwissenschaften richten sich auf latente Bedeutungen. Bemerkenswert ist<br />

jedoch, dass sich die Autoren nur selten auf die analoge, aber viel ältere<br />

Auseinandersetzung über die <strong>Interpretation</strong> von manifesten und latenten<br />

Trauminhalten beziehen. Es würde sich dann zeigen, dass “latent” zwei hauptsächliche<br />

Bedeutungen haben kann: latent im Sinne von momentan nicht bewusst<br />

und latent im Sinne von dynamisch-verdrängt-unbewusst.<br />

Da gerade diese gemeinsame Deutearbeit mit dem Autor des Textes für weite<br />

Bereiche der geistes- und sozialwissenschaftlichen Text- und Inhaltsanalyse<br />

praktisch unmöglich ist, bleibt hier der Begriff der latenten Bedeutungen eigentümlich<br />

verkürzt. Diese methodologische Sonderstellung der Psychoanalyse im<br />

Vergleich zur geistes- und sozialwissenschaftlichen Hermeneutik wird oft nicht<br />

gesehen. Deswegen muss diese Unterscheidung – auch im Vergleich zur Deutung<br />

von Träumen und von projektiven Tests – hervorgehoben werden.<br />

Die Interpreten stehen nun vor der Entscheidung. Soll nur der manifeste Text<br />

in seinen an der Oberfläche relativ allgemeinverständlichen denotativen<br />

Bedeutungen ausgewertet werden? Oder sollen auch die tieferen, konnotativen<br />

und latenten Bedeutungen interpretiert werden? Die Tiefe der <strong>Interpretation</strong> ist<br />

offensichtlich nicht als Dichotomie (quantitativ versus qualitativ), sondern als<br />

Kontinuum von Möglichkeiten zu sehen. Wie konvergent und intersubjektiv<br />

überzeugend kann dieser Spielraum genutzt werden und wie divergent, singulär<br />

und spekulativ sind die Ergebnisse? Weder darf quantitativ mit denotativ und<br />

manifest gleichgesetzt werden, noch qualitativ mit konnotativ und latent.<br />

<strong>Interpretation</strong>stiefe und <strong>Interpretation</strong>sdivergenz<br />

Für die Strategie der <strong>Interpretation</strong> ist es zweifellos eine zentrale Entscheidung,<br />

ob konnotative Bedeutungen verschiedener individueller und gesellschaftlicher<br />

Art und darüber hinaus auch unbewusste Motive erfasst werden sollen. Statt von<br />

verborgenen und latenten Bedeutungen zu sprechen, werden hier die Begriffe<br />

<strong>Interpretation</strong>stiefe und <strong>Interpretation</strong>sdivergenz eingeführt.<br />

• Ein Text ist grundsätzlich mehrdeutig. Die <strong>Interpretation</strong> kann von den häufigen,<br />

gewöhnlichen, naheliegenden Bedeutungen zu seltenen, ungewöhnlichen,<br />

erst zu erschließenden Bedeutungen vordringen. Die Anzahl und die<br />

Vielfalt der möglichen Schritte kennzeichnen die Tiefe eines Textes. Der<br />

Interpret bzw. die <strong>Interpretation</strong>sgemeinschaft entscheiden, welche <strong>Interpretation</strong>stiefe<br />

sie als zweckmäßig, ausreichend oder erschöpfend ansehen wollen.<br />

• Mit zunehmender <strong>Interpretation</strong>stiefe wird in der Regel die inhaltliche<br />

Divergenz von unabhängig gegebenen <strong>Interpretation</strong>en zunehmen und deren<br />

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