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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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gerade im Hinblick auf die Graphologie bestritten. Bei der empirischen Validierung<br />

psychologischer Tests ist es grundsätzlich einfacher, in der Eigenschaftstheorie<br />

einen gemeinsamen begrifflichen Bezugsrahmen zu finden. Hier sind<br />

Konstrukte wie Extraversion, Emotionalität, Ängstlichkeit, Leistungsmotivation<br />

oder Intelligenzquotient relativ verbreitet. Die Graphologie ist dagegen im<br />

Rahmen der Ausdruckspsychologie und Charakterkunde entstanden und deren<br />

theoretische Annahmen und Terminologie unterscheiden sich in vieler Hinsicht<br />

von der Eigenschaftstheorie. Diese Bedenken lassen sich nicht einfach<br />

abweisen. Zum Beispiel haben die in einer Schrift erscheinenden Prozesseigenschaften<br />

in der differentiellen Psychologie kaum eine Entsprechung. Die ausdrucks-<br />

und charakterkundlichen Begriffe von Klages müssen erst in Begriffe<br />

der neueren Persönlichkeitspsychologie übersetzt werden. Diese Schwierigkeiten<br />

sind unterschätzt oder sogar übersehen worden.<br />

Die Graphologie wird heute nicht mehr – wie noch in den sechziger Jahren an<br />

einigen Universitäten – gelehrt und geprüft. Nur noch 1.3 % der befragten<br />

deutschen Psychologen verfassten graphologische Gutachten (Schorr, 1995).<br />

Tatsächlich gibt es aber noch mehr, u. a. im Personalwesen und in der Partnerberatung<br />

tätige Graphologen, die auch nicht immer Diplom-Psychologen sind.<br />

Es liegt nahe, die erwiesene Ungültigkeit graphologischer Gutachten für den<br />

Bruch mit der Tradition verantwortlich zu machen. Doch der Sachverhalt ist<br />

sicher komplizierter. Neben den gewiss sehr berechtigten Zweifeln haben noch<br />

andere Gründe beim Niedergang der Graphologie und der graphologischen<br />

Ausbildung im Studium der Psychologie mitgespielt.<br />

Die Ausbildung war langwierig und erstreckte sich z. B. bei Heiß auf vier<br />

scheinpflichtige Übungen mit vielen Hausarbeiten und zwei aufbauende, ebenfalls<br />

scheinpflichtige Gutachtenpraktika. Wahrscheinlich hat auch das zeitweilig<br />

stark verringerte Interesse an psychologischer Diagnostik zur Abkehr von<br />

umfassenden Persönlichkeitsgutachten mit großem Zeitaufwand und fraglichem<br />

Nutzen für konkrete Fragestellungen beigetragen.<br />

Ein nur scheinbar trivialer Grund ist noch zu erwähnen: Der universelle<br />

Gebrauch von Kugelschreibern. Wer mit einem Füllfederhalter schreibt, dessen<br />

Feder sich spreizen kann und unterschiedlichen Tintenfluss bewirkt, hinterlässt<br />

in der Schreibspur und auf dem Papier erkennbare Druckspuren. Der Strich kann<br />

sehr druckstark oder druckschwach, gespannt oder spannungslos ausgeführt werden.<br />

In der Graphologie von Klages, Heiß u. a. sind aber gerade der Schreibdruck<br />

und die Spannung der Schrift zentrale Eigenschaften des Schreibens, die zur<br />

Gewichtung vieler anderer Merkmale herangezogen werden müssen. Mit einem<br />

Kugelschreiber sind solche Ausdrucksmöglichkeiten nur noch sehr eingeschränkt<br />

vorhanden.<br />

Diese Überlegungen sind nicht als Rechtfertigungsversuch der graphologischen<br />

Deutekunst gemeint, sondern als Hinweis, weshalb eine prägnante und<br />

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