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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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merkmalen zu beschreiben. In der Prozessanalyse müssen einzelne Episoden, der<br />

Tageslauf oder Wochenlauf mit möglichst vielen Datenpunkten erfasst werden.<br />

Je schneller die Reaktionen und Regulationen ablaufen, desto genauer muss auch<br />

das Zeitraster sein (<strong>Fahrenberg</strong> et al., 2002).<br />

In der von Heiß (1948, 1949) entworfenen Persönlichkeitstheorie (siehe<br />

Kapitel 11) liefern die sich wiederholenden, individuellen Verlaufsgestalten von<br />

Erlebnissen, Affekten und Antrieben den wesentlichen Zugang der Persönlichkeitsbeschreibung<br />

(sowie der praktischen Begutachtung und Beeinflussung).<br />

Auch die Prozesseigenschaften können eine Person charakterisieren, aber nicht<br />

im Sinne konstanter Eigenschaften, sondern als wiederkehrende, typische<br />

Regulationsmuster: “Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebnis,<br />

das immer wieder kommt” (Nietzsche, 1925, S. 90).<br />

Der von Heiß formulierte theoretische Anspruch scheint die diagnostischen<br />

Möglichkeiten weit zu übersteigen. Dieser Ansatz verlangt ja eine hohe zeitliche<br />

Auflösung der Veränderungen und mindestens Daten auf Ordinalskalen-Niveau,<br />

wenn nicht auf Intervallskalen-Niveau. Die Analysen physiologischer Regulationen<br />

beziehen sich auf kontinuierliche Messungen von Variablen, z. B. des<br />

Blutdrucks, um solche Abläufe zu erfassen. Heiß meinte, dass neben der sehr<br />

genauen Exploration nur wenige psychodiagnostische Verfahren, d. h. die projektiven<br />

Tests, und die <strong>Interpretation</strong> der Handschrift (siehe Kapitel 9 und 10) für<br />

differenzierte Verlaufsanalysen geeignet wären.<br />

Eigenständige Beschreibungseinheiten?<br />

Wer Tages- und Lebensläufe verschiedener Personen vergleichen möchte oder<br />

verallgemeinernde Aussagen über typische Persönlichkeitsentwicklungen geben<br />

will, benötigt ein geeignetes Kategoriensystem. Thomae (1968, 1996) hat diese<br />

Notwendigkeit immer wieder betont. Seine biographische Forschung ist als<br />

Verbindung von idiographischem und nomothetischem Ansatz zu verstehen (siehe<br />

auch Kapitel 12). Die Absicht, ein Klassifikationssystem aufzustellen, hatten<br />

auch Murray, Kelly, Tomkins und andere Autoren.<br />

Diese Systematik fehlt jedoch zumindest bei einem Teil der sozialwissenschaftlichen<br />

Autoren, welche die biographische Erzählung oder die Biographie selbst<br />

(nur) als soziale Konstruktion und Rekonstruktion auffassen. Sie scheinen sich mit<br />

dem Bild, das der Befragte von der Realität zu haben scheint, zu begnügen und<br />

interpretieren dieses aus symbolisch-interaktionistischer, kommunikations- und<br />

handlungstheoretischer oder ethnomethodologischer Sicht. Demgegenüber wird<br />

sich eine empirische sozialwissenschaftliche Forschung mit biographischer<br />

Methodik, wenn z. B. nach dem Typischen einer Arbeiterbiographie gefragt wird,<br />

auf ein Klassifikationssystem stützen müssen (Fuchs-Heinritz, 2000). Die unerlässliche<br />

Prüfung verallgemeinernder Aussagen an sehr vielen Biographien wurde<br />

von Thomae immer wieder betont (Thomae, 1968; Lehr, 1987).<br />

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