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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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gung (Exegese) der Bibel. Trotz unendlicher Bemühungen und einer für den Einzelnen<br />

nicht mehr überschaubaren Tradition, können dennoch durch originelle<br />

Perspektiven und neue Fragen bisher undeutliche Zusammenhänge einsichtig<br />

werden.<br />

Evidenz<br />

Zweifellos kann es falsche <strong>Interpretation</strong>en geben. Textstellen oder wichtige<br />

Kontexte können übersehen oder falsch entziffert werden. Sprachliche und begriffliche<br />

Irrtümer oder eine unzureichende Ausbildung des Interpreten können<br />

zusätzliche Missverständnisse verursachen. Deswegen gibt es in den Geisteswissenschaften<br />

eine lange und nie abzuschließende Diskussion: Wie kann zwischen<br />

einer gültigen und einer unzutreffenden Auslegung unterschieden werden?<br />

Dabei zeigt sich, dass hier die Begriffe “richtig” und “falsch” ungeeignet sind –<br />

es sei denn, die Quellen- und Textkritik ergab offenkundige Fehler. Weder die<br />

Objektivität eines empirischen Protokollsatzes über eine physikalische<br />

Beobachtung noch die Gewissheit einer logischen Schlussfolgerung wären die<br />

hier angemessenen Vergleichsmaßstäbe.<br />

Die <strong>Interpretation</strong> eines Textes soll diesen Text übersetzen und verständlich<br />

machen, indem Zusammenhänge und Anwendungen erkannt, aber auch konstruktiv<br />

entwickelt werden. Divergentes Denken ist auseinanderlaufend, einfallsreich,<br />

neue Lösungen entwickelnd. Konvergentes Denken ist zusammenführend,<br />

zielstrebig, auf Übereinstimmung und verbindliche Lösungen bedacht. Wenn<br />

sich hier divergentes und konvergentes Denken ergänzen, folgt, dass es eine einzige<br />

“wahre” <strong>Interpretation</strong> nicht geben kann. In der geisteswissenschaftlichen<br />

Hermeneutik werden Begriffe wie “zutreffend”, “triftig” oder “adäquat” bevorzugt<br />

und die Evidenz einer bestimmten Deutung betont.<br />

Evidenz (lat. Augenschein) heißt, dass ein Zusammenhang hervortritt, einleuchtet,<br />

also offensichtlich wird, und nun der Sinn des Textes verständlich<br />

ist. Diese Evidenz ist hier das Ergebnis eines gründlichen <strong>Interpretation</strong>sprozesses.<br />

Dagegen ist mit Intuition (lat. geistige Anschauung) die unmittelbare Erkenntnis,<br />

spontane Einsicht und innere Gewissheit gemeint. Wie dieses<br />

Urteil zustande kam, bleibt verborgen bzw. unbewusst. Allein der Verweis<br />

auf eine besondere intuitive Begabung kann aber nicht ausreichen.<br />

Psychologisch lässt sich das Evidenzgefühl als eine eigentümliche Erlebnisqualität<br />

beschreiben, welche eine gelungene Problemlösung begleitet, insbesondere<br />

wenn bisher verborgene Beziehungen hervortreten oder wenn sich etwas<br />

Unverstandenes plötzlich erschließt. Subjektiv kann dieses “aha” sehr überzeu-<br />

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