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Psychologische Interpretation. - Jochen Fahrenberg

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Theoretischer Kommentar<br />

Das wohl berühmteste literarische Beispiel stammt von James Joyce (1996), der<br />

in seinem Roman “Ulysses” einen einzigen Tag aus dem Leben des Annoncenexpediteurs<br />

Bloom schilderte. Die Darstellung umfasst 732 Seiten. In der<br />

psychologischen Forschung gibt es ausführliche Tageslauf-Dokumentationen, z.<br />

B. von Kindern und von psychiatrischen Patienten (siehe 6.3). Häufig zitiert werden<br />

auch die Arbeiten von Barker und Wright (1951) über Behavior Settings mit<br />

präziser Beobachtung kleinster Details. In einer berühmten Untersuchung wurde<br />

das Verhalten des siebenjährigen Raymond an einem Tag genau beschrieben.<br />

Dabei wirkten acht Beobachter mit. Das Protokoll hatte 435 Seiten und enthielt<br />

Tausende von Details, in jeder Minute zwischen 5 und 20 Aktionseinheiten und<br />

Interaktionen.<br />

Brandstätter (1983) hat mit einem Tagebuch den Wechsel von Befindenszuständen<br />

und Gefühlen während Arbeit und Freizeit untersucht. In anderen<br />

Untersuchungen liefert eine programmierbare Armbanduhr ein Signal (beeper<br />

studies), um regelmäßige Aufzeichnungen zu erreichen (Experience Sampling<br />

Method ESM von Csikszentmihalyi, siehe de Vries, 1992). Solche Protokolle<br />

geben einen Einblick in den Verlauf von Aktivitäten, Stimmungen oder körperlichen<br />

Symptomen. Sie lassen außerdem das Zeitbudget eines Menschen erkennen,<br />

d. h. wie jemand seine verfügbare Arbeits- und Freizeit verwendet. Pawlik<br />

und Buse (1982) setzten als erste einen programmierbaren Kleincomputer (handheld<br />

PC) zur zeitstichprobenweisen Selbstprotokollierung von Settings,<br />

Tätigkeiten und Befinden ein. Die computer-unterstützte Methodik (ambulantes<br />

Monitoring) ist heute ein verbreitetes Verfahren zur alltagsnahen Forschung<br />

(siehe <strong>Fahrenberg</strong> et al., 2002; <strong>Fahrenberg</strong> & Myrtek, 1996, 2001a, 2001b).<br />

Das minutiöse Protokoll eines Tageslaufs wäre in sich selbst – über die<br />

Demonstration der Datenvielfalt hinaus – noch kein wissenschaftliches Ergebnis,<br />

sondern nur eine große deskriptive Leistung. Es sind Fragestellungen und psychologische<br />

Kategorisierungen notwendig. Thomae (1968) hat in seiner<br />

biographischen Persönlichkeitsforschung Tagesläufe analysiert und nach<br />

geeigneten psychologischen Einheiten gefragt. In einer auf Tonbandprotokolle<br />

gestützten Untersuchung der Persönlichkeitsentwicklung im höheren Alter fand<br />

er zwischen 25 und 50 Episoden, die sich dann nach Themen wie Partnerbeziehung,<br />

Arztbesuch, Lesen u. a. Routineverrichtungen zusammenfassen<br />

ließen. Die Unterscheidung solcher Episoden wird dadurch erleichtert, dass bestimmte<br />

Handlungen abgeschlossen oder neue Settings aufgesucht werden.<br />

Dennoch bleibt diese Segmentierung ein grundsätzliches Problem. Ohne genauere<br />

Orientierung durch eine Fragestellung, welche Episoden in welcher<br />

Hinsicht interessieren, wird es kaum zu lösen sein.<br />

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